Der Silberturner Marcel Nguyen: Ein braver Asket
Marcel Nguyen gewinnt als erster Deutscher seit 76 Jahren eine Medaille im Mehrkampf der Turner. Sein Stärke liegt in seiner Zurückhaltung.
Fabian Hambüchen war der Erste, der gratulierte. Der Mann, dessen Namen wie kein anderer für das deutsche Turnen steht, beglückwünschte Marcel Nguyen, der Hambüchen nicht nur völlig überraschend aus dem Rampenlicht verdrängt hatte, sondern zugleich auch Historisches im Mehrkampf vollbrachte. Mit seiner Silberplakette stand erstmals nach 76 Jahren ein Deutscher auf dem Siegerpodest der Mehrkämpfer bei Olympia. In Berlin 1936 gewann zuletzt Alfred Schwarzmann Gold.
In London beeindruckt derzeit Nguyen vor allem durch seine mentale Stärke. Nach dem ersten Gerät belegte der 24-Jährige den letzten, den 24. Platz. Davon ließ er sich jedoch nicht beeindrucken – das Seitpferd liegt ihm nicht. Nervenstark schob er sich von Gerät zu Gerät im Klassement vor. Mit formidablen 91.031 Punkte turnte er den besten Sechskampf seines Lebens.
Im Vergleich zu Hambüchen, der sein Selbstbewusstsein breit vor sich her trägt, wirkt Nguyen, der Sohn eines Vietnamesen und einer Deutschen, äußerst zurückhaltend. Geschätzt wurden bislang vor allem seine Qualitäten als Teamturner. Im Mannschaftswettbewerb zuvor überzeugte der Sportsoldat aus Unterhaching mit stabilen Vorstellungen. Die Patzer unterliefen den prominenteren Kollegen wie Philipp Boy oder Fabian Hambüchen, der lediglich auf den 15. Platz kommt.
Auffällig wurde Nguyen vor den Spielen vor allem wegen seines großen Brusttattoos. Verschnörkelt prangt dort sein asketisches Motto „pain is temporary, pride ist forever“ („Qualen gehen vorüber, der Ruhm bleibt“). Um Ärger mit dem IOC zu vermeiden, hat Nguyen sich die Tätowierung mit Kosmetika übertünchen lassen. Zum Rebellen taugt er wahrlich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland