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Kindesmissbrauch an der OdenwaldschuleDer Schänder wird sichtbar

Jürgen Dehmers hat ein Buch über seine Erlebnisse an der Odenwaldschule geschrieben. Mit klarer Sprache entlarvt er darin die Reformpädagogen.

Von außen idyllisch, von innen für viele Kinder höllisch: Die Odenwaldschule. Bild: reuters

"Der Herr Direktor entlädt sich." Was für ein Satz. Ekelerregend. Und doch nur einer von vielen. Knorzelige Männerfüße. Turnschuhe gegen Geschlechtsverkehr. Spermatücher. Erzwungene Wichsrituale. Chronisch besoffene Vierzehnjährige. In den Tod getriebene Jugendliche. Gewaltsam aufgepresste Kinderkiefer, zwischen die sich gierige Männerzungen bohren. Eine Vaselinedose mit Kotspuren im Schlafzimmer Gerold Beckers.

So steht es im Buch von Jürgen Dehmers, "Wie laut soll ich denn noch schreien?" Die klare Sprache ist eine der große Stärken des Buches.

Dabei ist Dehmers Sprache im besten Sinne des Wortes normal. Sie bezeichnet Dinge als das, was sie sind. Der Verzicht auf rhetorische Weichzeichner macht die Taten der Schänder sichtbar. Wie soll schließlich Empathie mit den Opfern entstehen, wenn nur von "Missbrauch" die Rede ist, also einer eventuell verunglückten Form des "Gebrauchs"? Wie sollen Zusammenhänge erkennbar sein, wenn sie von abstrakten Termini begleitet werden, die nichts anderes sind als verbale Nebelgranaten?

Pädophilie selbst ist solch ein unerträgliches Wort. Als könne man ernsthaft sagen, dass ein Pädophiler Kindern zugetan sei, so wie ein Frankophiler eben Frankreich liebt. Es gehört zu den großen Perversionen des allgemeinen Sprachkonsenses, dass mit diesem Begriff die Freundschaft zu Kindern ausgerechnet denen zugesprochen wird, die sie zerstören.

Vertuscher ficken die Sprache

Wütender Aufklärer

Jürgen Dehmers ist der wichtigste Aufklärer im Odenwald. Ohne sein jahrelanges beharrliches und auch wütendes Drängen wäre der brutale Missbrauch an der Superschule nie ans Licht gekommen. Als Dehmers, der im richtigen Leben anders heißt, bei einem Klassentreffen 1997 seinem Ausbeuter und Vergewaltiger Gerold Becker wiederbegegnet, läuft das Fass über. Er beginnt Briefe zu schreiben, die Öffentlichkeit zu informieren, Verbündete zu suchen.

***

Der Kampf dauerte lange, beschrieben ist er nun - genau wie Dehmers' furchtbare Erlebnisse - in seinem Buch "Wie laut soll ich denn noch schreien?" (Hamburg, Rowohlt 19,95 Euro), das vergangenes Jahr von 20 Verlagen abgelehnt wurde. Unser Rezensent fragt: "Wie kann man so ein Buch ablehnen?" Dehmers hat in sein Leben gefunden; heute arbeitet er im pädagogischen Bereich und kämpft um Entschädigung für die Opfer. Der Verein "Glasbrechen - für die Betroffenen sexualisierter Gewalt auf der Odenwaldschule" geht von 400 bis 500 Opfern aus.

Wer Kinder als Sexualobjekte betrachtet, liebt sie nicht. Manchmal sind Sachverhalte tatsächlich so einfach. Und so, wie Gerold Becker, Wolfgang Held und andere, teils noch unbenannte Täter Kinder systematisch vergewaltigten und quälten, so wird die Sprache von den Vertuschern und Relativierern, nein, nicht missbraucht, sondern gefickt. Klartext hilft. Dehmers spricht ihn. In rationaler Leidenschaft, innerlich erregt und doch äußerlich gelassen.

Mittlerweile dürfte Jürgen Dehmers einer der bekanntesten Unbekannten Deutschlands sein. Sein Name ist ein Pseudonym - und gleichzeitig Synonym für die Aufklärungsbemühungen rund um die OSO, die renommierte Odenwaldschule Ober-Hambach, das liberale Vorzeigeinternat des besseren Deutschlands. Gemeinsam mit Thorsten Wiest begann Dehmers bereits im November 1999 öffentlich Licht in die systematischen Verbrechen zu bringen, die jahrzehntelang ein fester Bestandteil des Leuchtturms der Reformpädagogik waren.

Doch das Licht, entzündet mit Hilfe der Frankfurter Rundschau, wurde wie von einem schwarzen Loch geschluckt: Jürgen Dehmers zeigt in seinem Buch detailliert und unter Nennung von Namen, wie die Täter feixten, die Verantwortlichen taktierten und die Medien wegschauten. Und wer bis zu diesem Zeitpunkt denkt, der Zorn über die Taten Gerold Beckers und seiner pädosexuellen Kamarilla könne nicht noch größer werden, wird beim Lesen eines Besseren belehrt.

Angst essen Seele auf - was ist eine Schule wert, die aus reinem Selbsterhaltungsflehen die Täter vor ihren Opfern schützt? Dehmers zitiert aus dem Artikel der Frankfurter Rundschau, in dem der Nachfolger Beckers im Amt des Schuldirektors, Wolfgang Harder, erklärt, dass der Missbrauch von Schülern ein Stück Vergangenheit sei. Dass er, Harder, keine Veranlassung gesehen habe, an die Öffentlichkeit zu gehen. Und dass schließlich alle Menschen auch von Herrn Beckers Wirken profitiert hätten. Es ist eines Schuldirektors schlicht unwürdig, so zu argumentieren. Denn es gibt nichts Gutes im Schlechten: Darin gleichen die Verdienste Beckers den Autobahnen Hitlers.

Reformpädagoge auf dem Ledersessel

Ganz nebenbei bereitet Jürgen Dehmers allen Mutmaßungen über die mögliche Mitwisserschaft Hartmut von Hentigs, des Lebenspartners Gerold Beckers, ein abruptes Ende. Er benötigt nicht mehr als einen kurzen Absatz, um das Werk des Gottes der deutschen Reformpädagogik in den Staub zu treten: "Ich hatte Hentig als Kind kennen gelernt.

Er saß bei einem Besuch Beckers in dessen Wohnzimmer in einem der flachen Ledersessel, von denen gut ein Dutzend in Beckers Wohnzimmer herumstanden, und Becker stand seitlich neben ihm. Ich war kurz durch Beckers Wohnung gegangen, vielleicht um mir ein Brot zu schmieren oder um etwas zu trinken zu holen, als Hentig mich mit einem durchdringenden, fast gierigen Blick ansah. Er sah zu mir, er sah zu Becker, wieder zu mir und sagte: Das ist also einer von diesen Knaben!"

Wie kann es im erweiterten Kontext solcher Sätze möglich sein, dass die Reformpädagogik bis zum heutigen Tag keine klare Position in der Causa Becker und von Hentig bezogen hat? Es ist dieses Zögern, mit dem sich die Heilslehre ihre Sargnägel selbst schmiedet. Sie entlarvt sich durch die lautstark postulierte, aber wohl doch nur vorgebliche Nähe zum Kind, in dem eitle Köpfe wie von Hentig offenbar nie etwas anderes gesehen haben als unbedeutende Erfüllungsgehilfen ihres gesellschaftlichen Aufstiegs. Werde, der du bist - aber pass bloß auf, dass nicht zu viele Reformpädagogen in der Nähe sind.

Über die politischen und gesellschaftlichen Sekundanten des organisierten Kinderschändens ließe sich noch einiges mehr sagen, als Jürgen Dehmers es in seinem Buch tut. Ist nicht zum Beispiel Hellmut Becker, der erste Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, jener gefeierte "Bildungs-Becker", einer der Hauptverantwortlichen für die schrecklichen Vergehen? Warum machte er, im Wissen um den versuchten Missbrauch des eigenen Patensohns durch Gerold Becker, eben jenen im Jahr 1972 dennoch zum Direktor der Odenwaldschule? In welcher Beziehung stand er zu Hartmut von Hentig und Gerold Becker?

Welchen Einfluss auf das Schulwesen haben diese Anhänger Stefan Georges ausgeübt, die sich ihre erbärmliche Brücke des pädagogischen Eros zimmerten und Platon am Nasenring durch die Manege zogen, um verbotenes Land zu betreten? Man wünscht sich eine Interpretation dieser Zusammenhänge von Jürgen Dehmers und ist doch gleichzeitig dankbar, dass der Autor der Lust am Spekulieren nicht nachgibt und konsequent das selbst Erlebte und die Fakten sein literarisches Geländer sein lässt.

Pädosexualität ist unpolitisch

Wie Jürgen Dehmers schreibt, war die Welle, die die Odenwaldschule im letzten Jahr erfasste, gewaltig. Und er stellt bewusst die Verbindung zu den zahlreichen Missbrauchsskandalen an katholischen Schulen wie dem Berliner Canisius-Kolleg her, die für die öffentliche Wahrnehmung und die gesellschaftliche Diskussion wie ein Katalysator wirkten.

Dieser Punkt ist besonders wichtig: Denn, ob roter taz-Mitbegründer oder schwarzer Priester - Pädosexualität ist unpolitisch. Kinderficker haben kein Parteibuch. Jedes System ist ihnen recht, um darin die Ziele ihres Triebes aufzustöbern. Wer das verkennt oder zerredet, erschwert den Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern.

Links diskreditiert rechts aufgrund repressiver Strukturen, Rechts diskreditiert links aufgrund grenzenloser Libertinage. Die Folge ist ein engstirniges Patt. Und die Opfer sind erneut die Opfer. Dabei wird verleugnet, was schon jedes Kind weiß: Ein Hundehaufen riecht nicht besser, wenn ein zweiter Hund danebenkackt. Divide et impera - seit jeher nützt die Politisierung der Pädosexualität nur den Tätern.

Ein starkes und beständig wiederkehrendes Motiv im Buch von Jürgen Dehmers ist der Triathlon, dem er sich verschrieben hat. Dieser Extremsport ist eine gute Metapher für das gesamte Buch. So braucht die Schilderung seines Lebens bis zum Besuch der Odenwaldschule nicht mehr als eine Handvoll Seiten und kommt wie ein kurzes Warm-up daher. Dehmers läuft los, erst ungestüm, dann mit Bedacht, er muss seine Kräfte einteilen. Er kämpft gegen die Ignoranz an, gegen seine Traumata, gegen seinen Alkoholismus, der ihm die Flucht aus der Unerträglichkeit war.

Nach 25 Jahren am Ziel

Gelegentlich stoßen sperrige Sätze wie "Nach Scheiße kommt scheißer!" und einige Wiederholungen auf. Sie wirken seltsam ungelenk und passen doch ins Bild, wirken wie ein Stolpern während des Laufs. Man ahnt den Lektor hinterhereilen und japsen, doch es bleibt keine Zeit, stehen zu bleiben, dieses Rennen muss endlich beendet werden.

Denn Dehmers läuft einen der härtesten Triathlons, den je ein Mensch absolviert hat, und er erreicht nach 25 Jahren endlich sein Ziel. Er hat, gemeinsam mit seinem Team, einen brutalen und kräfteverzehrenden Lauf gewonnen. Diese Höchstleistung und den Durchhaltewillen Dehmers' können wir gar nicht ermessen. Er ist um sein Leben gerannt.

Auch die anderen Opfer gewinnen durch dieses Buch. Ebenso die Wahrheit. Gerold Becker und Wolfgang Held haben das Rennen nicht überlebt. Verloren haben all jene, die glauben, man könne ungestraft Kinder vergewaltigen oder aber die Vorfälle totschweigen. Hartmut von Hentig hat sich praktischerweise selbst disqualifiziert. Die Odenwaldschule muss beißen, wenn sie nicht auf der Strecke bleiben will. Und die Reformpädagogik irrt orientierungslos durchs Unterholz.

Der Titel des Buches lautet: Wie laut soll ich denn noch schreien? Wer diesen Ruf von Jürgen Dehmers nicht hören will, muss sich fragen lassen, warum er freien Willens zu Verbrechern unter eine stinkende Decke kriecht, unter die er seine eigenen Kinder niemals krabbeln lassen würde.

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23 Kommentare

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  • W
    werner

    Eigentlich dürfte doch jetzt -spätestens nachdem man das hervorragende und mutige Buch von Jürgen Dehmers gelesen hat-kaum noch ein verantwortliche Mutter oder Vater sein Kind auf die Odenwaldschule geben wollen.Mal abgesehen das es sich in der eigenen biographie nicht mehr sonderlich gut macht wenn man sein "Notabitur" in einem Kinderbordell abgelegt hat.Die Odenwaldschule ist doch jetzt ein NO GO!

  • B
    Betroffene

    Nachdem ich das Buch:"Handbuch der Psychotraumatologie",erschienen in 2011, gelesen habe war mir auch klar warum die Aufklärung der sexuellen Gewalt an der Odenwaldschule nicht vorankommt und warum sich viele Betroffene nicht outen:abgesehen von tatsächlichen Bedrohungen,Verschweigen und Unterdrückung der Opfer(wie sehr plastisch in dem Buch von Jürgen Dehmers geschildert) sind das Täterintrojektion und Identifikation mit dem Aggressor.Das betrifft auch die eigenen Eltern .Denn die haben einen immerhin auf die Odenwaldschule geschickt-soweit man nicht vom Jugendamt geschickt wurde-und über Jahre dann die Täter schalten und walten lassen und Verbrechen an ihren eigenen Kindern begehen lassen.Da habe ich mehr Respekt vor einem armen Reisbauern in Thailand der aus purer Not seine kleine Tochter in ein Bordell verkauft als vor dieser sog. Elite die diese Schule betreibt oder betrieb.Gerold Becker und co haben ganze Arbeit geleistet und so sitzen die meisten von uns OSO ianern noch immer im Schweigegefängnis.Und wohlgemerkt ganze Arbeit mit Hilfe der Eltern,des Jugendamtes und des Schulamtes.Ich gratuliere!!!

  • RK
    Ralf Karkowski

    @Betroffene Habe selbst gemerkt, wie ich angesichts einiger Schilderungen in Dehmers Buch an den Berichten zu zweifeln begann. Z.B. an der Passage über die Schülerzeitung mit den pornographischen Bildern und den wohlwollenden Leserbriefen dazu. Als ich dann in der Süddeutschen las, dass dort ein Exemplar dieser Schülerzeitung vorliegt und der Inhalt bestätigt wird, hab ich´s geglaubt. Im Fall von Missbrauch von Kindern sollte man wohl eher nach dem Grundsatz verfahren: Im Zweifel für den Bericht des Kindes.

  • B
    Betroffene

    Kleine Geheimnisse muss man hüten.Grosse Geheimnisse werden von der Ungläubigkeit der Menschen geschützt.

  • V
    VERO

    Das Buch sollte Pflichtlektüre für den Vorstand des Trägervereins der Odenwaldschule (Eigentümerverein) und des Lehrkörpers werden.

     

    Vielleicht, die Hoffnung stirbt zuletzt, kapieren diese dann mal, was sie mit ihrer Verweigerungshaltung gegenüber den Opfern anrichten.

  • E
    Ex-Odenwaldschüler

    Besonders widerlich sind und waren auch unsere Eltern die uns diesen Kinderschändern aussetzten und dann dabei auch noch so tun bzw. taten als wüssten sie von nichts.

  • L
    lurexa

    Selten einen Text gelesen, der die Mechanismen um sexuelle Gewalt an Kindern so treffend schmerzhaft beschreibt. Das Nicht-Glauben-Wollen; die Lähmung; die Weigerung sich dagegen zu stellen.

    Ich kann es immer noch nicht verstehen, wie diese Strukturen der Erbärmlichkeit wirken. Das Leugnen und Schweigen. Der doppelte Missbrauch dadurch an den Kindern. Es ist einfach nur ekelhaft.

     

    Dank an den Auotr des Buches und Dank an den Autor des Artikels.

  • WD
    wunden, die nie heilen

    @A. Mayer

    zum "pädagogischen eros" hat die TAZ im letzten jahr ein, wie ich finde, hervorragendes essay der erziehungswissenschaftlerin meike sophia baader veröffentlicht, titel "Das Ende des Schweigens":

     

    http://taz.de/Paedagogischer-Eros/!50492/

     

    lesenswert!

  • AM
    A. Mayer

    vielen Dank für diesen Artikel; diese klare Sprache (und die vorangestellte Sprachkritik!) sind so wohltuend. . .

    Ich hoffe immer noch, dass mal wer kommt und analysiert, was hinter dem Ausdruck "pädagogischer Eros" so alles steckt an pädokrimineller Ideologie - angefangen von Platon mit seiner "Knabenliebe" (bei der es sich ja um real vollzogenen sexuellen Missbrauch handelte) über den Georg-Kreis und die diversen pädokriminellen Gründer von "Reform"-Schulen bis zu den heutigen Seilschaften. Mir ist unbegreiflich, wie man den Ausdruck "pädagogischer Eros" überhaupt noch benutzen kann, es sei denn als Kennwort für gemeinsame Veranlagungen.

    Ich weiß auch noch gut, wie wir in der Schule im Philosophie-Unterricht den Platon-Text mit der Knabenliebe als Anfang allen Philosophierens lasen. Ich hockte da und dachte: "Was ist das denn?" Aber entweder es fiel sonst keinem auf, oder es machte keiner den Mund auf.

    Und so ist es auch mit der sexuellen Gewalt, der Kinder ausgesetzt ist allermeist: Entweder es "fällt nicht auf" (weil nicht sein kann was nicht sein darf), oder keiner macht den Mund auf.

    Da ist noch viel zu tun. . .

  • WD
    wunden, die nie heilen

    @ilmtalkelly

    "Ich werde das Buch trotzdem nicht lesen, weil die ersten Schilderungen dieser Verbrechen so entsetzlich auf mich wirkten, das ich zu dem Schluss kam, wer dieses Buch wälzt,

    muss entweder abgebrüht sein oder sich daran aufgeilen."

     

    das ist ihre meinung.

     

    aber kann es nicht auch sein, dass dieses buch wütend macht? dass es aufrüttelt, den blick schärft, sensibilisiert, breit angelegte solidarität mit den opfern von becker u. co. schafft, was zb. dem mutigen, zu recht wütenden autor des buches hilft, mit seinen unsäglichen erfahrungen fertig zu werden, sie als lebenslange last etwas leichter zu tragen?

     

    ich denke, diese chance besteht.

     

    dagegen verstehe ich ihren einwand gegen das lesen des buches (denn nur abgebrühte und/oder auf kinder geile leute sind ja ihrer ansicht nach die zielgruppe) als diffamierung einer potenziellen, interessierten leserschaft. und als einen vorwurf an den autor und seinen verlag, kontraproduktiv, ein weiteres mal die opfer zu mißbrauchen (diesmal aus kommerziellen gründen).

     

    dies ist, mit verlaub, eine sehr schlichte wie recht eigenwillige sicht der dinge. freundlich ausgedrückt.

    bitte denken sie darüber noch mal nach.

  • SA
    salman Ansari

    Mahlzeit!

    Die Odenwaldschule kannte nur Superlative. Ihre Verwandlungsgeschwindigkeit ist schier atemberaubend. Noch vor wenigen Monaten lag sie in Asche, doch in Windeseile ist sie als Phönix auferstanden. Der gute Ruf der Schule war, wie wir heute wissen, erschwindelt. Irgendwie können auch die neuen Mitarbeiter dieser Schule nicht davon lassen, einem etwas vorzumachen. Denn Herr Esser scheint nach seinem Duktus ein Mitarbeiter der Schule zu sein. Er ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, in der Tradition der Schule Unwahrheiten zu verbreiten. Nur mit solchen Pädagogen kann die Odenwaldschule die Stirn haben zu behaupten, sie sei auf dem Weg der Genesung. Was die Odenwaldschule braucht, ist eine Zäsur. Diese wird sie mit Mitarbeitern wie Herrn Esser – sollte er denn einer sein – nicht erreichen. Herr Esser isst das altbewährte Menu der Odenwaldschule nicht allein. Er hat eine ganze Schar von neuen und alten Mit-Essern.

  • S
    suswe

    @ilmtalkelly:

    Als Betroffene von sexualisierter Gewalt im Kindesalter werde ich mir dieses Buch durchlesen, aber nicht um mich aufzugeilen, sondern um den Blick anderer Betroffener nachzuvollziehen. Der kann für die eigene Situation ab und zu sehr aufschlussreich sein.

    Siehe auch dazu Artikel zu diesem Thema im März dieses Jahres in der taz.

    Sexuelle Gewalt ist immer politisch, weil u.a. ihre Folgen gesellschaftlich benutzt werden können. (z.B. für Kommerzialisierungen von Suchtstrukturen.

    Dabei ist es egal, welches Parteibuch/Ideologie/Ausrede für den offenen oder verdeckten Anspruch auf den Diebstahl an der Entwicklung von Kindern/Jugendlichen verwendet wird.

    Die Mentalität die dahintersteckt, ist immer die gleiche. Mensch lese dazu mal die feministische Fachliteratur.

  • L
    Langstreckenläufer

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    @ Hans Esser

    Eine immer noch geschlossene Gesellschaft

    1998 wandte sich Jürgen Dehmers mit einem Freund zusammen an Lehrer und Schulleiter der Odenwaldschule. 1999 berichtete der Journalist Jörg Schindler unmissverständlich über den Missbrauch. Jeder, der wollte, konnte diesen Artikel seitdem nachlesen. Er steht immer noch drin. Es verging daraufhin über ein Jahrzehnt der Vertuschung. Man stelle sich einmal vor: Du bist schwer beschädigt, traumatisiert, am Abgrund, kannst endlich Dein Schweigen brechen. Aber die Verantwortlichen, die Dir all dies unauslotbare Leid angetan haben, „ kriechen einfach unter die stinkende Decke“ des Vertuschens und sind nicht ansprechbar – Stunde um Stunde, Tag für Tag, Jahr für Jahr bist Du allein gelassen. Liest man Herrn Essers Kommentar, so scheint die Odenwaldschule nun seit März 2010, wo eine Verleugnung nun wirklich absolut nicht mehr möglich war, ihre dunkle Vergangenheit innerhalb von wenigen Monaten flugs „aufgearbeitet“ zu haben, ist ein Schutzraum für Gemobbte, Diskriminierte geworden, hat neue Strukturen entwickelt (welche denn?) und bietet guten Unterricht. Wo kann man dies alles nachprüfen, frage ich Herrn Esser. Außer der Schulleiterin Frau Kaufmann ist nie ein Vertreter der Odenwaldschule an die Öffentlichkeit gegangen, hat sich den Fragen von Journalisten in Funk und Fernsehen gestellt. Wo findet man Dokumente, die diese neuen Strukturen belegen? Ich erinnere mich noch an eine Gesprächsrunde im Fernsehen, wo der Moderator bedauerte, dass sich niemand von der Odenwaldschule bereit erklärt habe, am Gespräch teilzunehmen. Aus der Schule dringt doch gar nichts heraus. Der Kontakt zu den Betroffenen scheint abgebrochen, von konkreten Entschädigungen hört man nichts. Behaupten, dass alles besser geworden sei, kann jeder. Sieht so „Aufarbeitung“ aus? Aufarbeitung als langer Prozess, der lange schmerzhafte Phasen und Entwicklungsstufen durchläuft. Nach eineinhalb Jahren des Eingeständnisses – nach vorausgegangenen zwölf Jahren der Verleugnung und Missachtung der Betroffenen - zu sagen, dass der Prozess nun abgeschlossen sei, ist unglaublich. Wo wären wir in unserem Land, wenn wir nach Jahren der Verdrängung nicht schmerzhaft darüber belehrt worden wären, dass nicht nur die Täter und die, die sie gestärkt haben, sondern wir alle bis auf den heutigen Tag die volle Verantwortung für die Taten zu übernehmen haben! Zwölf lange Jahre hat man – nicht nur die Odenwaldschule, sondern auch viele Verantwortliche und Prominente in Politik und Pädagogik - verstreichen lassen. Das ist es, was in mir immer wieder so namenlose Wut hochkommen lässt!

  • I
    Ilmtalkelly

    Bemerkenswert an der Tragödie ist auch, dass ausgerechnet ein Chemielehrer indischer Abstammung, also ein Migrant, sich früh und mit Courage dem Dogma der Lehrerschaft widersetzte und sich nach dem ersten Bekanntwerden der Schandtaten von Becker distansierte.

    Becker und Held sind gruselige Typen. Alle Menschen, die durch sie verstümmelt wurden ,haben das Recht, sich zu äußern, wenn es ihnen hilft.

    Ich werde das Buch trotzdem nicht lesen, weil die ersten Schilderungen dieser Verbrechen so entsetzlich auf mich wirkten, das ich zu dem Schluss kam, wer dieses Buch wälzt,

    muss entweder abgebrüht sein oder sich daran aufgeilen.

  • M
    monk

    no comment no comment no comment

  • W
    Wissender

    Moment..natürlich sind diese praktizierenden Pädosexuellen alle ungestraft davon gekommen-auch dieser Hartmut von Hentig. Dieser Superpädagoge hat sogar noch in 2005 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg erhalten und seine Bücher stehen ungefragt in vielen Bibliotheken und gelten nach wie vor als pädagogische Standardwerke.Die Namen der Kinderschänder dürfen nicht genannt werden-ausser Gerold Becker und Wolfgang Held-sonst gibt es für die Opfer Unterlassungsklagen.Die Odenwaldschule wurde nicht geschlossen und zahlt keine Wiedergutmachung an die Betroffenen.Der Fall Odenwaldschule zeigt ganz klar:Ja man kann Kinder vergewaltigen,missbrauchen,quälen ohne selbst dafür jemals belangt zu werden-ganz im Gegenteil man wird sogar dafür belohnt mit Verdienstmedaillen und gesellschaftlicher Anerkennnung.Man verkehrt in den höchsten Gesellschaftlichen Kreisen ,Elite eben.Und die darin involvierten Politiker-zum Beispiel als Mitgleider des Trägervereins wie Richard von Weizäcker wussten natürlich nach eigenenAngaben von rein gar nichts.Auch von Dohnanyi hatte einen Sohn auf der Schule.Das meiste darf man doch immer noch nicht sagen.Asserdem wurde Schüler bedroht und sie wegen untergeschobener Straftaten verurteilt damit sie schweigen.Diese Betroffenen werden und können niemals sprechen.Es sind viel menr Btroffene als 132!

  • L
    loschelder

    Der Artikel ist toll, aber der Titel ziemlich daneben.

    Ein "Schänder" bringt Schande.

  • F
    Friedrich

    "....Mit klarer Sprache entlarvt er darin die Reformpädagogen..."

     

    Er entlarvt die Täter und Täterinnen und nicht "die Reformpädagogen!!

    Als ob Reformpädagogen per se Täter seien.

     

    DFas Buch ist außer dem weit von dem Niveau des FREIWILD von Tilmann Jens entfernt"

  • LC
    Lucas Castro

    Der Begriff des "(Kinder)schänders" ist ein absolutes Unding, denn es suggeriert, dass dem Kind Schande zugefügt wurde und versieht es mit einem moralischen Makel.

    Damit wird den Opfern meiner Meinung nach durch einen unbedachten Sprachgebrauch eine weitere Bürde aufgelastet. Ein betroffenes Kind wird nicht entehrt, befleckt oder beschmutzt, sondern es wird vergewaltigt! Betroffene sollten daher nicht noch mit einem gesellschaftlichen Stigma beladen werden.

     

    Bitte liebe taz, gerade ihr solltet doch kritischer mit gängigen Begrifflichkeiten umgehen.

     

    PS

    Ebenso unkritisch wird immer wieder der "Extremismus" in der taz zitiert - hier sollte man doch ein bischen Skepsis zeigen.

  • DP
    Dr. P. Franke

    Hilfe!

     

    Soviel sprachliche und inhaltliche Klarheit nach einem meiner kompromissbehafteten Redakteursarbeitstage ist kaum zu verkraften!

     

    Als Nächstes wäre dann da noch das kritische Buch zum kindlichen Medienkonsum von H.v.Hentig in meinem Regal, das anfängt zu stinken. Zufall, dass ich es nie zuende las?

     

    Möge Dehmers eindrückliche Kraftanstrengung die damals oder heute Verantwortlichen ins Mark treffen!

     

    P.Franke

  • HE
    Hans Esser

    Grauenhaft, aber wahr. Glücklicherweise steht die Odenwaldschule heute für das Gegenteil. Schutz vor Mobbing, Diskrimierung und die Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs haben -- neben der Entwicklung neuer Strukturen und gutem Unterricht -- inzwischen absolute Priorität. Täter arbeiten nicht mehr an der Schule. Dafür viele junge, engagierte Lehrer, die zu Beckers Zeiten noch gar nicht geboren waren. Sie bauen eine neue und gute Schule auf. Wünschen wir ihnen viel Glück bei dieser Arbeit. Die Schülerinnen und Schüler profitieren davon, hoffentlich.

  • AR
    Antonius Reyntjes

    Im Vergleich zu einem sehr anderen, einem katholischen Interant, das ich in etwa dem gleichen Zeitraum besuchen "musste" (weil die bischöflich-priesterliche Auswahl-Angel über meinem Kopf schwebte), habe ich eine dumpfe Furcht vor dem Sexuellen einigeimpft bekommen.

    Bedrohlich waren dann die "Nachrufe" auf die verloren gegangenen Schüler (nicht nur wg. Leistung zu den Zeugnisterminen) ...- denen wurde immer eine "Schweinerei" nachgesagt; eleganter ausgedrückt ein "Krösken" mit den Spritzen aus dem Verpflegungsstall.

    Die dumpfe Glocke des Schweigens, der leisen Andeutungen, von deren Klöppel auch kurzfristig eingestellte, unverheiratete Lehrer (männlich) erwischt wurden - diese Glocke habe ich oft noch als leichten Kopfschmerz im Detz, wenn ich mich frage, warum (nach alter Benennung) von der Sexta bis zum Abitur nach der Oberprima die Verschwudnenen geblieben.

    Diser Erinnerungschmerz "funktioniert" als Alarm auch hier wieder in dem rasanten Bericht von "Dehmers":

    Bei den ähnlichen Gelengenheiten (Budenrabatz, Sport, Fahrten, Trampen, Übernachten in fast leeren Häusern bei der eigentlich stattfindenden Heimfahrten ... wenn ein Präfekt nachts die Türklinke ganz leise drückte, die Tür öffnete und ich bei der Onanie aufhören musste... und mich ängstlich umdrehte im quietschenden Bett) frage ich nach meinen räumlichen und körperlichen Gefüfhlen - aber wir Katholen waren - nachträglich - gesehen, gesichert durch die Hemmschwelle der bösen Geschlechtlichkeit, deren wir uns enthalten sollten und die zu tausend Ermahnungen Anlass gab; aber nie zur Aufklärung.

     

    Nein, missbraucht worden sind wir körperlich n i c h t - wohl aber im Emotionalen, also geistig in einer systemischen Ideologie der Leibfeindlichkeit, der Furchsamkeit und der Entindividualisierung.

     

    Internate? Nein, das geht nur, wenn man denn Krüppel erziehen will! Oder: s. OSO (ich lese immer SOS), wo die Konstrukteure (Pädagogen!) ihre Befriedidgung suchten und garantiert und finanziert fanden, mit laufend Frisch-(schwänzen)!

    Da marschiert hörbar gemacht von "Dehmers u.a., eine ganze Truppe von toten "Geliebten".

    Aufklärungs-Agent "Dehmers" ist der erste in der unendlichen Reihe der verschmielten Internats-Literatur ("Musil..." hin und her; weg damit!), der unerhörten Praxis zur Einsicht in einen als klassisch humanistisch getarnten Jugendlichkeits- und EINBildungs-Fitsch.

  • S
    stimmviech

    Ein klasse Kommentar über ein sicher wichtiges Buch.Was fehlt: warum hält die taz immer noch Daniel Cohn-Bendit für einen harmlosen Mann, wo er doch offen zugibt, sich von Kindern am Penis hat manipulieren lassen? Wann kommt eine Distanzierung von diesem Mann?