Fazit des EU-Wahlkampfes: Verlorene Suche nach einem Nenner
Die europäische Idee lebt auch jenseits der EU-Grenzen. Georgien und die Ukraine schauen besorgt auf den wachsenden Nationalismus der Mitglieder.
Denn seien wir doch mal ehrlich: Nicht nur die Bulgar*innen – immerhin seit 2007 ist der Balkan-Staat nun schon Mitglied der Europäischen Union – fühlen sich nicht für voll genommen, unverstanden und irgendwie abgehängt. Ein Land an der Peripherie Europas eben – und klein noch dazu, so wie etwa Malta, Luxemburg, Zypern oder die Slowakei.
Doch wer interessiert sich schon für die Belange dieser Staaten in einem Europa, das von der Achse Paris-Berlin (künftig wohl auch erweitert um Rom) dominiert wird, die als „böse“ zu bezeichnen denn doch etwas zu weit ginge. Im Fall der Slowakei braucht es schon, so zynisch das klingen mag, ein Attentat auf den Regierungschef Robert Fico – so geschehen im Mai –, damit dieses Land es auch mal in die Schlagzeilen schafft.
Die diesjährigen Wahlen zum EU-Parlament hätten die Möglichkeit geboten, Interesse und eine gewisse Neugier zu wecken sowie gegenseitiges Verständnis füreinander zu entwickeln. Doch das scheint offensichtlich nicht passiert zu sein. Einmal abgesehen davon, dass nach wie vor von einer gesamteuropäischen Öffentlichkeit keine Rede sein kann, waren fast alle Mitgliedsstaaten vor allem mit dem eigenen Allerwertesten beschäftigt. Dieser Umstand lässt sich auch an teilweise extrem niedrigen Wahlbeteiligungen ablesen. Wieso eine Stimme für das EU-Parlament abgegeben?
Brüssel in weiter Ferne
Das alles ist umso erstaunlicher, als es diesmal tatsächlich um einiges gegangen ist – unabhängig davon, dass vielen Menschen Brüssel immer noch fern liegt und sie die Tragweite der dort getroffenen Entscheidungen nicht ermessen können oder sie schlichtweg ignorieren.
Viel stärker noch als bei den Wahlen 2019 steht die EU vor großen Herausforderungen, denen mit nationalen Alleingängen zu begegnen unmöglich ist. Da ist zum einen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine, dessen Ende derzeit nicht absehbar ist. Dieser Krieg hat nicht nur bei Staaten wie Lettland, Litauen und Estland, aber auch Polen historische Traumata und Ängste wieder aufbrechen lassen, sondern auch die Notwendigkeit, die europäische Verteidigungsfähigkeit zu stärken, auf die politische Tagesordnung gesetzt.
Da wäre des Weiteren die Causa Migration und Geflüchtete. Kaum ein Tag vergeht ohne Meldungen über das Schicksal von Menschen, die bei dem Versuch, die EU zu erreichen, ihr Leben verlieren. Diese Verzweiflungstaten wird es auch weiter geben. Repression, Hunger und Armut, aber immer häufiger auch die Auswirkungen der Klimakrise wird viele Menschen dazu zwingen, sich auf den Weg zu machen.
Und dann ist da noch der zu erwartende Rechtsruck in Europa. Besonders die Rechtspopulist*innen, denen Russlands Präsident Wladimir Putin nach Kräften Schützen- und Wahlkampfhilfe leistet, machen sich Angst, Verunsicherung, aber auch Frust über die Europäische Union mit wachsendem Erfolg zunutze. Das sind übrigens genau die Leute, die sich um ein Mandat im Brüssel bemühen, um nicht nur das EU-Parlament, sondern die EU als Ganzes zu unterminieren.
Winkelemente in Schwarz-Rot-Gold
Wer in der vergangenen Woche in Berlin EU-Devotionalien in Form von blauen Flaggen mit gelben Sternen erwerben wollte, musste sich schon in die Vertretung der EU-Kommission bemühen. In normalen Kiosken gab es Winkelemente in Schwarz-Rot-Gold – sonst nichts.
EU-Fahnen in rauen Mengen sind bei den wochenlangen Massenprotesten gegen die Regierung in der Südkaukasusrepublik Georgien (seit vergangenem Dezember EU-Beitrittskandidat) zum Einsatz gekommen. Vor allem junge Leute klammern sich an die Hoffnung, dass auch neue Mehrheiten im Parlament nichts an dem Erweiterungskurs ändern werden.
Auch die Ukrainer*innen blicken sorgenvoll in Richtung Brüssel. Was passiert, wenn die Bereitschaft, die Ukraine weiter zu unterstützen, sinkt? Die Ukrainer*innen betrachten die Geschehnisse in Europa längst als ihre Sache, schreibt ein ukrainischer Journalist. Irgendwann würden auch ukrainische Abgeordneten im EU-Parlament sitzen. Das dauere noch, aber der Tag werde kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
SPD-Linker Sebastian Roloff
„Die Debatte über die Kanzlerkandidatur kommt zur Unzeit“
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los