Kolumne Navigationshilfe: „Das ist die gute russische Erziehung“

Lange Reisen mit Kleinkindern sind oft ein Problem, zumindest im Westen. Anders drauf sind Kinder in Russland oder Südamerika.

Kinder schauen aus einem Busfenster heraus

Warum nur sind manche Kinder so „pflegeleicht“ auf langen Reisen? Foto: imago/Zuma Press

Auf der Rückfahrt vom Baikalsee nach Irkutsk im Bus, acht Stunden Fahrt, während Wiesen und Birkenwälder an uns vorbeiziehen, mindestens vier Stunden bis zum ersten Stopp an einer Toilette, und hinter uns: eine Mutter mit vier Kindern. In einem deutschen Bus wäre das nun schon nach vier Minuten ein Problem. Auf der Rückfahrt vom Baikalsee passiert: nichts. Acht Stunden lang sagen die Kinder, vielleicht zwischen drei und neun Jahren alt, kein einziges Wort. Kein „Ich muss Pipi“, kein „Wann sind wir endlich da?“, keine Prügelei. Mir kommen ernste Gedanken, ob sie vielleicht sediert wurden.

Mir ist das schon öfter aufgefallen. Ob in Russland oder in Südamerikas: schweigende Kinder in Öffis. Ich erinnere mich an junge Maroon-Frau im Regenwald in Suriname, die auf einer dreistündigen Kanufahrt im Regen einen Säugling transportierte. Er schrie kein einziges Mal. Wie machen die das? Also die Eltern, nicht die Kinder. Wahrscheinlich wird es für immer unerklärlich bleiben.

Eine Annäherung an die Frage zumindest erleben wir in der Mongolei im Gespräch mit einem jungen Mann namens Mike in der Hauptstadt Ulan-Bator. Mike ist gewiss nicht sein richtiger Name; wie viele junge Mongolen, die mal im Ausland waren, hat er sich einen englischen Namen zugelegt, geschuldet dem Unvermögen oder Unwillen vieler Europäer, mongolische Namen auszusprechen. Und seiner Höflichkeit.

Mike, Sohn einer mongolischen Ärztin, ist in Russland aufgewachsen, sehr verantwortungsbewusst, sehr reif und nicht überrascht von der Geschichte. „Das ist die gute russische Erziehung“, sagt er und deutet einen Faustschlag an. Er meint es offenbar als Kompliment. „In der Mongolei sind die Eltern ähnlich streng.“ Mir fällt schon länger auf, wie seltsam brav und unrebellisch die Kinder sind. Aber auch, wie wenig egozentrisch sie sind, wie höflich, altruistisch und respektvoll, und das wiederum ist eine beschämende Erkenntnis.

Die „gute russische Erziehung“, die ich fast überall außerhalb des verweichlichten Westens treffe, bleibt ein faszinierendes Mysterium, und ein manchmal düsteres. Eine ausgewanderte Niederländerin, die ich in Suriname traf, klagte sehr, wie die Kinder regelmäßig in der Schule von den Lehrern geschlagen würden. Und dass ihre Kinder (die vorher in den Niederlanden an einer Montessori-Schule waren, also wahrscheinlich den Kulturschock ihres Lebens bekamen) jetzt große Angst hätten, in die Schule zu gehen.

Die Kinder an meiner alten Gastschule in Costa Rica standen militärisch zum Appell, und dort wie anderswo ging es nie um Kreativität, nur um gehorsames Abspulen von Wissen. Wo Licht ist, ist auch Schatten. Ob es auch möglich ist, Kinder ohne Schläge dazu zu bringen, nicht in Öffis zu schreien, überlasse ich hiermit der Forschung.

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Jahrgang 1991, studierte Journalismus und Geschichte in Dortmund, Bochum, Sankt Petersburg. Schreibt für die taz seit 2015 vor allem über politische und gesellschaftliche Sportthemen zum Beispiel im Fußball und übers Reisen. 2018 erschien ihr Buch "Wir sind der Verein" über fangeführte Fußballklubs in Europa. Erzählt von Reisebegegnungen auch auf www.nosunsets.de

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