Aus Le Monde diplomatique: Der große Verrat in Brasilien

Die politischen Eliten im Westen sind schockiert über den Wahlerfolg des Rechten. Ein autoritäres Regime entsteht aber nicht zufällig.

Jair Bolsonaro lässt sich in einer Menschenmenge feiern

Ex-Militär Jair Bolsonaro lässt sich feiern Foto: dpa

Brasiliens Medien, flankiert von Interessengruppen in Justiz und Wirtschaft, sind in den letzten drei Jahren nicht müde geworden, darauf hinzuweisen, dass die systemische Korrup­tion der Politik das größte Problem der Na­tion sei. So bestürzt waren sie über die Korruption, dass sie sich 2016 zusammenschlossen – Dissens war praktisch verboten –, um die gravierendste Maßnahme zu unterstützen, die eine Demokratie zulässt: die gewählte Präsidentin Dilma Rousseff vor Ende ihrer Amtszeit abzusetzen.

Von Anfang an war peinlich klar, dass die große Empörung nur ein Vorwand für die geplante Amtsenthebung Rousseffs war: Denn mit ihrer Absetzung legten die Beteiligten die Macht wissentlich in die Hände organisierter Krimineller, gegen deren mafiose Gepflogenheiten Rousseffs altmodische Haushaltstricks („pedaladas“) ungefähr so schwer wiegen wie bei Rot über die Straße zu gehen.

Man wundert sich, dass die Medienstars von Globo, die den brasilianischen Medienmarkt beherrschen, und Politiker der Mitte darüber tatsächlich Empörung heucheln konnten, ohne eine Miene zu verziehen.

Der schmierige Karrierist Michel Temer, den sie als Präsidenten einsetzten, befahl die Zahlung von Schweigegeldern an einen echten Gangster, Eduar­do Cunha, seinen Parteifreund, der das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff geleitet hatte. Es gibt Tonaufnahmen davon. Mittlerweile sitzt Cunha wegen Korruption, Geldwäsche und Unterschlagung im Gefängnis.

Glenn Greenwald und Victor Pougy sind Journalisten bei The Intercept. Glenn Greenwald ist Autor von „Die globale Überwachung. Der Fall Snowden, die amerikanischen Geheimdienste und die Folgen“ (München/Droemer, 2014).

Zu gigantisch

Der Kongress, der die gewählte Präsidentin unter flammenden Antikorruptionsreden absetzte, nahm in den letzten beiden Jahren Bestechungsgelder von Temer entgegen, die ihn vor Verfolgung wegen seiner illegalen Zahlungen und anderer Verbrechen schützen und ihm – trotz vorhandener Beweismittel – den Komfort und Schutz des Präsidentenpalasts erhalten.

Der Betrug ist zu gigantisch, um ihn in Worte zu fassen, aber Worte sind gar nicht nötig, weil alles so offensichtlich ist. Im Wahlkampf haben die großen Medien und die Familien der Oligarchie, denen sie gehören, jeden Anschein von Moral fahren lassen. Vereint und offen standen sie hinter dem Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin, der das Establishment der konservativen Partei PSDB (Partido da Social Democracia Brasileira) exem­pla­risch verkörpert.

Als eine etwas konservativere, zurückhaltendere Version von Hillary Clinton ist er zutreffend beschrieben: Er ist seit Jahrzehnten in der Politik unterwegs, dient den Interessen der Wirtschaft und wird von ihr unterstützt, füllt unauffällig jedes denkbare Amt aus, ruht bequem im Filz der neoliberalen Korruption, die Brasiliens Politik am Laufen hält.

Alckmin ist der Inbegriff der herrschenden Ordnung. Und er ist so vollkommen frei von jeglichem Charisma, dass er gern mit einem gurkenähnlichen Gemüse verglichen wird – „Chuchu“ ist inzwischen zu seinem Spitznamen geworden. Aus gutem Grund bestand seine wichtigste politische Taktik darin, sich zu verstecken. Er hielt keine Wahlkampfveranstaltungen ab, weil außer Menschen, die an Schlaflosigkeit leiden, niemand gekommen wäre.

Politische Strippenzieher

Sein Weg zur Macht hing und hängt ausschließlich von obskuren Hinterzimmerdeals ab, bei dem politische Strippenzieher große Geldsummen an diejenigen verschieben, die ihren Interessen dienen. Es ist genau die Art legalisierter Korruption, die die brasilianische Politik (und übrigens auch die US-amerikanische) zerstört hat und die die Medien des Landes angeblich so verwerflich finden.

Obwohl die großen Medien Brasi­liens ihre Liebe zu Alckmin bekundeten, kam er bei der Wahl nicht über klägliche 4,8 Prozent der Stimmen hinaus. Ebenso wie in den USA und in Westeuropa haben auch die Wähler in Brasilien für die herrschende politische Klasse oft nur Verachtung übrig.

Dieser Artikel stammt aus der kommenden Ausgabe von Le Monde diplomatique, die am Donnerstag erscheint. LMd liegt immer am zweiten Freitag des Monats der taz bei und ist einzeln im taz-Shop bestellbar: Gedruckt oder digital (inklusive Audio-Version).

Lange Zeit hatte der ehemalige Präsident Lula da Silva in den Umfragen deutlich geführt – doch weil er wegen Korruption verurteilt wurde, durfte er nicht kandidieren. Bis zur letzten Minute hatte man in seiner Partei, der Arbeiterpartei (PT), gehofft, die Justiz werde aufgrund des massiven öffentlichen Drucks anders entscheiden.

Am 11. September wurde schließlich Fer­nan­do Haddad, ehemaliger Bürgermeister von São Paulo, zum Ersatzkandidaten bestimmt, der – wie einst Dilma Rousseff – von Lulas Popularität profitierte. Trotzdem er extrem wenig Zeit für den Wahlkampf hatte, schaffte er es mit 29,2 Prozent der Stimmen auf Platz zwei.

Politisch tot

Favorit nach dem Ausfall Lulas aber wurde der eindeutig faschistische Kongressabgeordnete Jair Bolsonaro, der von der Rückkehr zur Militärherrschaft träumt. Am 6. September wurde er bei einem Wahlkampfauftritt durch einen Messerangriff schwer verletzt, was ihm zusätzliche Stimmen einbrachte. Inzwischen hat er seine Wahlkampagne für die Stichwahl wieder aufgenommen.

Brasiliens Establishment war angesichts der Umfragewerte zunehmend in Panik geraten: Geraldo Alckmin war politisch tot und ließ sich trotz aller Bemühungen der von den reichen Familien kontrollierten Medien nicht wiederbeleben. So unternahm man einen letzten verzweifelten Versuch, die Macht doch noch zu retten und ließ „die Gurke“ eine neue Koalition mit zahlreichen anderen Parteien präsentieren, die den sogenannten Block der Mitte bildeten.

Was nicht mehr hieß als: nicht Lula und nicht Bolsonaro. Als Alckmin Anfang August zum Spitzenkandidaten gekürt wurde, präsentierte er als künftige Vizepräsidentin Ana Amélia Lemos von der rechtskonservativen Fortschrittspartei.

Dieses Bündnis hat milde gesagt überhaupt nichts „Mittiges“. Lemos’ Partei Partido Progressista (PP) war bis 2015 die politische Heimat von Bolsonaro. Ihre Wurzeln reichen in die rechte Militärdiktatur zurück, die Brasilien von 1964 bis 1985 beherrschte. Ein von den USA unterstützter Putsch gegen die gewählte linke Regierung hatte die Militärs an die Macht gebracht.

Ideologischer Extremismus

Damals unterstützte Amélia Lemos als Journalistin in ihren Artikeln die Diktatur. Sie war mit einem Senator verheiratet, den die Militärs ausgesucht hatten und der ihnen diente. Ihre derzeitigen politischen Ansichten stehen sogar im aktuellen weltpolitischen Spektrum von Trump bis Orbán in der äußersten rechten Ecke.

Als im April die Vorsitzende der PT, Gleisi Hoffmann, dem Nachrichtensender al-Dschasira ein Interview gab, in dem sie Lulas Inhaftierung kritisierte, ergriff Ana Amélia Lemos im Senat das Wort: In einer fast schon genialen Mischung aus Fremdenhass und Dummheit verwechselte und vermischte sie al-Dschasira mit al-Qaida. Sie warf Hoffmann vor, sie lasse sich mit Terroristen ein und stachle die „islamische Armee“ gegen Brasi­lien auf.

So schlimm das alles auch ist, der ideologische Extremismus ist noch der harmloseste Teil dieser Scharade. Die übermächtige Parteienkoalition hinter Alckmin sollte dafür sorgen, dass er den größten Teil des Geldes und der Medienpräsenz abbekam, die im kurzen brasilianische Wahlkampf zu verteilen waren: Alckmin sollte den Wählern in den Schlund gestopft werden, mit so viel Gewalt, Geld, Propaganda und etablierter Macht, dass sie ihn am Ende mit einem unwillkürlichen Reflex runterschlucken.

Das haben sie nicht getan. Dazu mag das erstaunliche Faktum beigetragen haben, dass eine der Parteien, auf die das Establishment bei der Wahl gesetzt hat, Lemos’ PP, am tiefsten in die große Korruptionsaffäre verstrickt ist, die seit vier Jahren das Land erschüttert. Gegen 31 der 56 gewählten Volksvertreter der PP, also mehr als die Hälfte, laufen derzeit Verfahren wegen Korruption.

Herumstolziert wie Pfauen

Lemos ist übrigens nicht angeklagt, obwohl sie ihre politische Laufbahn mit einem bezahlten, angeblichen Fulltimejob bei ihrem Senatorgatten begann, während sie gleichzeitig eine volle Stelle als Journalistin innehatte.

Jair Bolsonaro musste, um als politischer Saubermann antreten zu können, diese Kloake von Bestechung und Diebstahl verlassen, die als politische Partei firmiert. Auch Alckmin selbst muss sich übrigens derzeit verantworten, weil er mutmaßlich in früheren Wahlkämpfen Millionen Dollar Schwarzgeld von Oligarchen erhalten hat.

Das ist der Ring des organisierten Verbrechens, der versuchte, an die politische Macht zurückzukehren, getragen von den Medienkonzernen – vor allem von den selbsternannten Experten des Nachrichtensenders Globo News, die in den letzten Jahren herumstolziert sind wie Pfauen, wider das Übel der Korruption predigend.

Wir wurden Zeugen des widerwärtigen Spektakels von Politikern und Kommentatoren, die Arm in Arm marschiert sind, um den Kopf der Präsidentin wegen harmloser Haushaltstricks zu fordern und die korruptesten politischen Parteien Lateinamerikas ins Amt zu hieven.

Erosion politischer Freiheitsrechte

Die politischen Eliten der Vereinigten Staaten und der westeuropäischer Staaten, die durch den Wahlsieg von Trump, den Brexit und den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien unter Schock stehen und sich das alles gar nicht erklären können, versuchen verzweifelt, vor dem entscheidenden Punkt die Augen zu verschließen, der in Brasilien offensichtlich ist: Ein autoritäres Regime entsteht nicht zufällig. Demagogen haben keinen Erfolg, wenn die politischen Institutionen gesund, gerecht und unparteiisch sind.

Zu Bedrohungen der liberalen Demokratie und zur Erosion politischer Freiheitsrechte kommt es nur dann, wenn die Bevölkerung den Glauben und das Vertrauen in die Institutionen an der Spitze des Staats verliert. Dann werden Gesellschaften anfällig für die Lockrufe derer, die damit drohen – oder versprechen –, alles niederzubrennen.

Medien und Experten sind dann nicht mehr in der Lage, die Öffentlichkeit vor Lügen und Gefahren zu warnen, denn die Öffentlichkeit sieht diese Medien und Experten inzwischen verständlicherweise nicht mehr als Warner vor Gefahren, Leid und Täuschungen, sondern als deren wesentliche Verursacher.

Kritik an Leuten wie Trump, Marine Le Pen und Bolsonaro ist dann nicht nur wirkungslos, sondern kontra­produktiv. Je mehr jemand von den einst gefeierten, nun aber verachteten Trägern der etablierten Macht gehasst wird, desto attraktiver erscheint er. Die Eliten in den USA und den demokratischen Staaten Europas lernen diese Lektion gerade auf die harte Tour. So geht es auch den brasilianischen Eliten.

Verlorene Glaubwürdigkeit

Deren Schulterschluss mit einer Koalition, deren einziges Ziel darin besteht, die korrupte alte Ordnung zu wahren und auszuweiten – nachdem sie jahrelang das Gegenteil gepredigt hat –, ist der Grund, warum sie die Glaubwürdigkeit und die Macht verloren haben, die wahren Bedrohungen für die Demokratie aufzuhalten.

Wer im politischen, wirtschaftlichen und medialen Establishment wissen will, warum die Demokratie in Brasilien sich auflöst, sollte seine Zeit nicht damit verschwenden, Bolsonaro anzustarren und zu sezieren. Er oder sie müsste nur in einen sehr großen Spiegel schauen; und anschließend könnte der Spiegel an die Eliten Nordamerikas und Europas weitergegeben werden, die dort ebenfalls in sich selbst ebenjene Quellen der antidemokratischen, autoritären Tendenzen erblicken würden, gegen die sie so unermüdlich wie ohnmächtig wettern.

Aus dem Englischen von Ursel Schäfer

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.