Flucht vor der Nazi-Judenverfolgung: Der Vormieter
Ludwig Katzenellenbogen musste vor 79 Jahren seine Wohnung in Berlin verlassen. Im Mai ist er zurückgekehrt – in meine Wohnung.
Vor einigen Wochen ist er zurückgekommen. Er schien erleichtert, dass er sich noch daran erinnern konnte, wie die Wohnung früher ausgesehen hatte. Auch für mich war es eine Erleichterung.
Ludwig Katzenellenbogen ist ein kräftiger Mann mit schwindendem Haar und einem entschlossenen Händedruck, der zum Gehen einen Stock braucht. Seinen Gesprächspartnern schaut er gern in die Augen. Er ist noch fit, aber die Reise bis zu unserer Wohnung war anstrengend, wegen der Flughäfen, Taxis und vielen Stufen zwischen seinem Seniorenheim im israelischen Netanja und dem Haus in Berlin-Schöneberg.
Seine Eltern, die einmal Mieter dieser Wohnung waren, sind in Israel gestorben. Zuvor hatten sie mit Ludwig auf drei Kontinenten gelebt. Wer mit der jüdischen Geschichte vertraut ist, weiß, dass solche Biografien typisch für deutsche Juden sind, die vor den Konzentrationslagern zu fliehen vermochten. Aber mir erscheinen solche Lebensläufe bemerkenswert.
Im Jahr 1933 lebten etwa 500.000 Juden in Deutschland. Die allermeisten von ihnen waren deutsche Staatsbürger, empfanden sich als Deutsche und sahen in ihrer Religion eine Privatsache. Nur eine kleine Minderheit unterstützte damals die Vorstellung einer Auswanderung nach Erez Israel (dem Lande Israel) im britischen Mandatsgebiet Palästina.
Der Boykott jüdischer Geschäfte und der Ausschluss von Juden aus vielen Berufssparten vom Richter bis zum Mediziner bewirkte bei vielen deutschen Juden ein Umdenken. Schon im ersten Jahr der NS-Herrschaft emigrierten rund 37.000 Menschen, 1934 waren es 23.000. Allerdings glaubten damals noch viele Deutsche – und nicht nur Juden –, die NS-Herrschaft werde schon bald in sich zusammenbrechen. Gar nicht vorstellbar war ihnen der Holocaust, wie er schließlich ab 1941 in Gang gesetzt wurde.
In den 1930er Jahren bestand das Ziel der antisemitischen Politik der Nazis noch darin, die Juden zur Emigration ins Ausland zu drängen. Dennoch mussten die Emigranten vor ihrer Auswanderung einen bürokratischen Hürdenlauf durchstehen – und sie verloren einen Großteil ihres Vermögens und ihres Haushalts. Diese Ausplünderung steigerte sich von Jahr zu Jahr. Besonders Arme und Ältere fanden keine Möglichkeit zur Emigration. Zudem wurde es immer schwieriger, überhaupt noch ein Auswanderungsziel zu finden, denn die klassischen Einwanderungsländer wie die USA bestanden auf einem Quotensystem und in Palästina kürzten die Briten die Zahl der ausgegebenen Einwanderungszertifikate drastisch.
Nach der Pogromnacht im November 1938, nach der etwa 30.000 Männer in Konzentrationslager eingeliefert wurden, um diese zur Auswanderung zu zwingen, setzte eine Fluchtwelle ein. In diesem Jahr verließen 40.000 Juden Deutschland, 1939 waren es gar 78.000. Angesichts der verschlossenen Grenzen mussten sich die Verfolgten für immer exotischere Ziele entscheiden, zum Beispiel für Schanghai. Damals stieg auch die Auswanderung nach Lateinamerika deutlich an. Rund 30.000 deutsche Juden erreichten wie die Katzenellenbogens Argentinien. Die wichtigsten Aufnahmeländer ab 1933 waren die USA mit rund 140.000 Einwanderern, gefolgt von Großbritannien und Palästina.
Mit dem Kriegsbeginn am 1. September 1939 schwanden die Chancen zur Auswanderung, denn Nazi-Deutschland war nun fast gänzlich von gegnerischen Staaten umgeben. Zudem fielen viele in europäische Staaten emigrierte Juden bald darauf den Nazis zum Opfer. 1941/42 entschied die NS-Spitze, alle europäischen Juden zu ermorden, zunächst in der Sowjetunion, bald darauf auch die deutschen Juden. Im Oktober 1941 verboten sie die Auswanderung von Juden aus dem Reich.
Etwa 300.000 Juden in Deutschland war bis dahin die Flucht gelungen. 165.000 wurden unter dem NS-Regime ermordet, wenige Tausend überlebten in Deutschland.
Klaus Hillenbrand
Bemerkenswert ist auch, auf welche Weise Ludwig den Weg zurück zu seiner früheren Wohnung fand – wie aus jemandem, der für mich jahrelang nur als Name auf ausgeblichenen deutschen Dokumenten existierte, plötzlich ein lebendiger Mensch wurde. (Dafür waren mehrere gescheiterte Anläufe und die Beihilfe des – mal gehassten, mal geschätzten – Mark Zuckerberg nötig).
Hans Katzenellenbogen, Ludwigs Vater, stammte aus Krotoschin (Krotoszyn) im heutigen Polen. Sein Großvater und sein Vater hatten dort ein Geschäft, wie auch Ludwig Generationen später in Israel. Die Eltern von Hans, Hans selbst und seine Schwester Else zogen 1922, nach dem Ersten Weltkrieg, nach Berlin.
Dort heiratete Hans seine Frieda, und 1926 brachte sie Ludwig zur Welt. Eine seiner frühesten Erinnerungen ist der Umzug im Jahr 1933 von einer nicht weit entfernten Straße in seine-meine Wohnung in der Rosenheimer Straße 40. „Ich verstand nicht, warum wir denn ausgerechnet an meinem Geburtstag umziehen mussten“, erinnert er sich. „Als Trost hob mich der Mann, der uns mit seinem Fuhrwerk beim Transport der Möbel half, auf sein Pferd und ritt mit mir durch die Straße unseres Viertels. Was für ein Tag!“
Seit 2011 lebe ich mit meiner Familie in seiner-meiner Wohnung im 2. Stock. Ein Altbau mit hohen Decken, Stuck. Zwei große repräsentative Räume zur Straße und die Dienstbotentreppe am Hinterausgang belegen, dass das Haus für bessergestellte Leute gebaut worden war.
Wir wollten mehr über die Geschichte des Hauses erfahren. In der Dauerausstellung im Rathaus Schöneberg über die jüdische Vorkriegsbevölkerung suchten wir nach Informationen. 2016 dann erzählten uns einige Hausnachbarn, was sie über die früheren jüdischen Bewohner unserer heutigen Wohnungen wussten.
Seitdem zeigen meine Frau Anke Hassel und ich jedes Jahr Anfang Mai auf unserem Wohnzimmertisch ausgebreitet die Dokumente, die unsere Nachbarn und wir über die Katzenellenbogens gefunden haben. In den Berliner Archiven gab es noch die Entschädigungsanträge an die deutschen Behörden, die der Vater Hans, die Mutter Frieda und Hans’ Schwester Else in den fünfziger Jahren gestellt haben, weil sie bei der Flucht aus Deutschland ihr Hab und Gut zurücklassen mussten.
Wir beteiligen uns damit am Projekt Denk mal am Ort. Wir haben dort Freunde gefunden, die wie wir ihre Wohnungen für Dutzende Besucher öffnen, die mehr über frühere, von den Nazis verfolgte Nachbarn erfahren wollen.
Vergilbte Papiere und eine überstürzte Flucht
Die vergilbten Papiere in altertümlichem Deutsch drehen sich um Entschädigung, aber eigentlich erzählen sie die Geschichte – einen Teil der Geschichte – der Familie Katzenellenbogen. Es ging ihnen gut, sie führten drei Geschäfte „für Porzellan, Haushaltswaren und Kristall“ in Berlin. Hans war Vorsitzender der Ortsgruppe Berlin im Reichsverband Deutscher Spezialgeschäfte. In seiner Umgebung genoss er Respekt.
Sie hatten eine Wirtschafterin und ein Kinderfräulein und lebten mit vielen Annehmlichkeiten. In einem Dokument beschreibt Hans dies: „Wir lebten in einer komfortablen Privatwohnung (in der Rosenheimer Straße) bestehend aus fünf Zimmern mit viel Nebengelass. Meine Wohnungseinrichtung war luxuriös mit modernen Möbeln, Perserteppichen, feinen Porzellanen, Kristall etc.“
Die Katzenellenbogens waren sich bewusst, dass ihnen durch Hitler Gefahr drohte. Im Herbst 1938 wurde es ernst. Die Deutsche Arbeitsfront zwang Hans, eines seiner Geschäfte zu schließen. „Hans Katzenellenbogen konnte sich einer sofortigen Festnahme nur dadurch entziehen, dass er mit der Kasse durch die Hintertür flüchtete“, notierte einer seiner Angestellten in einem anderen Dokument.
Danach ging es nur noch darum, wie sie Deutschland möglichst schnell verlassen konnten – und wohin. Sie entschieden sich für Argentinien, kauften für 1.850 Reichsmark Fahrkarten für die „Cap Norte“, die am 28. April 1939 von Hamburg aus in See stach.
In Argentinien versuchten sie sich als Hühnerzüchter, doch das war ein hartes Leben. 1954 bestätigte die deutsche Botschaft in Buenos Aires, dass Hans und seine Angehörigen „arm und bedürftig“ seien. Mitte der sechziger Jahre übersiedelte die Familie dann nach Israel.
Das war alles, was wir von den Katzenellenbogens wussten. Wir hatten versucht sie zu finden. Ich fragte Holocaustforscher, die ich kannte, und wir suchten im israelischen Telefonbuch nach ihnen, aber ohne Erfolg. Schließlich hatten wir selbst auch jede Menge zu tun, und wir hatten genug herausgefunden, um uns und unsere alljährlichen Besucher zufriedenzustellen.
Suchende, die sich nicht finden
Was wir nicht wussten, war, dass die Katzenellenbogens, während wir unsere Wohnung im Gedenken an die Familie öffneten, sich selbst aktiv darum bemühten, ihre eigene Geschichte in der Rosenheimer Straße nachzuzeichnen. Vor zwei Jahren kam Dan, ein Enkel Ludwigs, aus Israel nach Berlin, stand vor unserem Haus und rätselte, in welcher Wohnung sein Großvater gelebt hatte. Vor einem Jahr folgte ihm Ludwigs Tochter Elsa. Sie fragte bei Nachbarn und stieg das Treppenhaus hoch, doch es kam kein Kontakt mit uns zustande. Dan sprach sogar mit einer Nachbarin, die die jüdische Geschichte des Hauses kannte. Doch auch dies blieb eine Sackgasse.
Sollte niemand diese kleine Brücke, die viele Jahre und mehrere Kontinente überspannt, bauen können?
Ludwig machte in den Jahren vor ihrer hastigen Flucht nach Argentinien ganz ähnliche Erfahrungen wie seine Eltern. Er war glücklich in seiner privaten jüdischen Schule in Dahlem und erinnert sich, mit dem Fahrrad oder auf Schlittschuhen Berlin erkundet zu haben. Dann begann das Unheil, besonders seit der Pogromnacht vom 9. November 1938. Er erinnert sich, dass ihm sein älterer Bruder erzählte, mit eigenen Augen die eingeworfenen Schaufensterscheiben des väterlichen Geschäfts in der Schöneberger Goltzstraße gesehen zu haben. Ludwig selbst lebte damals nicht in Berlin, sondern bei Bochum, wo er mit einem jüdischen Cousin die Schule besuchte.
Hugh Williamson schreibt als freier Autor und arbeitet für Human Rights Watch in Berlin. Er twittert under @hughawillamson
„Das Haus, in dem wir wohnten, wurde in jener Nacht in Brand gesetzt. Sie wollten, dass wir in den Flammen sterben, und schlugen die Haustür mit einer Axt ein. Mein Onkel sagte, wir sollten laut schreien. Wir schrien und schrien und sprangen am Ende in unseren Schlafanzügen aus dem Fenster.“ Er erinnert sich, dass er barfuß über die Glasscherben laufen musste.
Die Polizei interessierte sich nicht für die Angriffe auf Juden wie Ludwig. Zurück in Berlin, stand für ihn fest, dass die Zeit für die Abreise aus Deutschland gekommen war. Die Leute „beschimpften uns als Juden. Mir machte das Angst, es war wirklich schrecklich.“
„Wir haben die Katzenellenbogens gefunden!“
An einem Sonntag im März dieses Jahres summte frühmorgens mein Telefon. Eine Nachricht von einer wunderbaren Freundin, Jani Pietsch, eine der Initiatorinnen von Denk mal am Ort. Sie schrieb: „Wir haben die Katzenellenbogens gefunden!“ Sie hatte eine Facebook-Gruppe von Leuten mit dem Namen Katzenellenbogen entdeckt und sie um Hilfe gebeten. Ein Mitglied auf den Philippinen hatte ein anderes in Israel kontaktiert, das die Anfrage abermals weiterleitete … bis sie Elsa erreichte, Ludwigs jüngere Tochter.
„Ich glaube, mir kommen die Tränen“, sagt Elsa, als ich sie am Abend anrufe. Wir können es beide nicht glauben. Namen auf einem Stück Papier werden plötzlich zu echten Menschen. Wir wissen nicht, was wir sagen sollen, aber wollen nicht aufhören zu erzählen. Wir sind uns einig, dass sie mit ihrem Vater zum nächsten Denk-mal-am-Ort-Termin im Mai kommen müssen. Aber was wird da geschehen? Wie wird Ludwig reagieren, falls alte Traumata wieder hochkommen? Was werden sie davon halten, dass wir sehr persönliche Familiendetails öffentlich ausstellen? Meine Frau und ich wollen sie gern als Gäste aufnehmen, aber wir waren auch gespannt und ein wenig besorgt.
Elsa und Ludwig kommen mit einem Koffer bei uns an, der sich als Schatztruhe deutscher und jüdischer Geschichte erweist. Ludwigs Vater Hans musste zwar den größten Teil ihres Hab und Guts zurücklassen, bevor sie sich nach Argentinien einschifften, aber sie konnten viele Dokumente und Fotoalben mitnehmen – wertvolle Erinnerungen, die nun dorthin zurückkehren, wo sie vor 80 Jahren entstanden waren.
Sie erzählen die typische und dennoch bemerkenswerte Geschichte der Familie. Hier ein Bild von Ludwig mit Schultüte bei der Einschulung Anfang der dreißiger Jahre. Da ein Zertifikat aus dem Jahr 1935 anlässlich der Verleihung des Ehrenkreuzes für Frontkämpfer durch Adolf Hitler an Hans dafür, dass er, wie 100.000 andere Juden, im Ersten Weltkrieg auf der Seite Deutschlands gekämpft hatte. Diese Medaille erhielt nur, wer dafür einen Antrag stellte – hatte Hans geglaubt, die Auszeichnung würde ihn vor Verfolgung schützen?
Und ein Brief, den Ludwig 1965 aus Neapel an seine Eltern schrieb, als er per Schiff nach Israel emigrierte. „Morgen mittag werden wir in Israel sein. Wir beginnen unser neues Leben“. Später eröffnete er dort einen Kolonialwarenladen und verkaufte importierte Lebensmittel und andere Waren. Er wurde dort heimisch und Oberhaupt einer großen israelischen Familie. Seine beiden Töchter haben sieben Kinder; Elsa lebt mit ihrem Mann Shlomi auf einer Kollektivfarm im Süden Israels. „Du musst uns besuchen“, insistiert sie gegenüber meiner Frau und mir.
Eine Geschichte aus der Familie stammt von Ludwigs Vater Hans und wird uns von Elsa erzählt. Hans und seine Frau Frieda reisten 1936 nach Palästina, um einen Verwandten zu besuchen. Dies war nicht geplant, sie entschieden sich während eines Urlaubs in Italien, mit dem Schiff dorthin zu reisen. Frieda musste ihren Schmuck verkaufen, um die Passage zu bezahlen. Ihr Verwandter drängte sie, dort zu bleiben, denn er machte sich Sorgen, wie es in Deutschland weitergehen würde. Doch Hans lehnte ab – die Söhne waren noch in Deutschland und ihr Leben dort war angenehm, besser jedenfalls als unter den dürftigen Bedingungen im Palästina jener Tage.
Elsa fügt hinzu, dass dies eine ungewöhnliche Geschichte sei. „Hans sprach nicht gern darüber, dass er überlebt hat“, sagt sie. „Er wollte uns nicht damit belasten.“
Ludwig erkennt seine alte Wohnung wieder
Ludwig betritt die Wohnung und scheint sich zu Hause zu fühlen. „Da stand der Schreibtisch meines Vaters“, sagt er. „Im Herrenzimmer.“ Er wandert durch die Wohnung, und er ist froh, hier zu sein. Er und seine Angehörigen finden unsere Ausstellung lobenswert. Später wird er von Besuchern umringt, die ihm aufmerksam und mit großem Respekt zuhören. Seine Stimme zittert etwas, als er von der Pogromnacht erzählt, aber er kann seine Emotionen recht gut zurückhalten. „Es macht mich nicht traurig, hierher zurückzukommen.“ Er hatte ein langes Leben, und die Verfolgung, die seine Familie erleiden musste, scheint ihn nicht zu sehr zu belasten.
Aber der Kern seiner Identität bleibt wichtig. Er erinnert sich an seinen einzigen früheren Besuch in Berlin, irgendwann Ende der sechziger Jahre, vielleicht auch schon in den siebziger Jahren, mit seiner Spanisch sprechenden Frau. Auf dem Wochenmarkt am Winterfeldplatz in Schöneberg fragte ihn eine Frau, wie es komme, dass er Spanisch spreche. Er erzählt ihr, dass er in den Dreißigerjahren nach Argentinien auswandern musste. „Sie haben das Land verlassen, weil Sie fliehen mussten?“, fragte die Frau. „Nein. Ich verließ es, weil ich Jude bin“, antwortete er.
Aus dem Englischen von Stefan Schaaf.
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