Kolonialismus-Forscher über Genozide: „Es gibt nicht einmal Gräber“

Hamburgs Kolonialismus-Forscher Jürgen Zimmerer hat ein Fotoprojekt zur künstlerischen Aufarbeitung des Genozids an den Herero und Nama aufgelegt.

Ein weißter Mann mit dreckiger Uniform steht neben einem schwarzen Mann mit traditioneller Kleidung. Im Hintergrund eine Hütte mit Geweihen.

Kolonisator mit „Trophäen“: Foto aus der Sammlung Theodor Wroblewsky Foto: Museum für Völkerkunde Hamburg

taz: Herr Zimmerer, Sie haben in Hamburg ein deutsch-namibisches Fotoprojekt über den Herero-Genozid initiiert. Kann das eine Entschuldigung der Bundesregierung ersetzen?

Jürgen Zimmerer: Nein. Aber es kann nicht sein, dass die Aufarbeitung der deutsch-namibischen Kolonialgeschichte allein aufs Juristische, auf die schleppenden Verhandlungen um die Anerkennung des Genozids reduziert wird. Eine Aufarbeitung muss auch aus den Zivilgesellschaften heraus passieren: aus der deutschen, die über das Ausmaß des Genozids informiert werden und die Aussöhnung mittragen muss – und aus der namibischen, die die Bedeutung des Genozids für ihre Geschichte herausarbeiten und darüber Kontakt zu einem weitgehend verdrängten und unterdrückten Kapitel der eigenen Geschichte finden möchte.

Weswegen auch drei namibische KünstlerInnen am Projekt beteiligt sind.

Ja, wir wollen die Beteiligung der NamibierInnen ermöglichen, und wir sind in der Bringschuld. Das Ungleichgewicht in der Kultur- und Wissenschaftslandschaft zwischen Nord und Süd ist auch ein Resultat des Kolonialismus und wirkt weiter. ForscherInnen und KünstlerInnen aus Namibia etwa haben nur schwer Zugang zur Kunst- und Wissenschaftsszene im Globalen Norden und zu deutschen Fördergeldern und Stipendien.

Wie soll das Fotoprojekt konkret aussehen?

52, ist seit 2010 Professor für die Geschichte Afrikas an der Universität Hamburg und leitet seit 2014 zudem die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe.

Wir versuchen, gemeinsam mit dem Völkerkundemuseum Hamburg, den riesigen Fundus an Kolonialfotografien aufzuarbeiten. Und wir beginnen mit den über 1.000 Fotografien aus dem Umkreis des Genozids an den Herero und Nama, erfreulicherweise finanziert von der Gerda-Henkel-Stiftung.

Konkret heißt das?

Eine Hamburger Historikerin arbeitet die Fotos auf, und dazu kommen drei KünstlerInnen aus Namibia, die ihre eigenen Projekte und ihre eigene Sprache dazu entwickeln. Zum Abschluss werden wir in einer künstlerischen Präsentation – in Hamburg und Namibia – ihre Sicht zeigen. Denn wir haben zu diesem Genozid sehr viele Quellen aus deutscher Sicht, aber kaum Quellen, die uns die Perspektive der Kolonisierten nahe bringen. Es gibt nicht einmal Gräber der Opfer des Genozids, weil die Menschen in der Wüste verdursteten, ihre Spur sich häufig dort verliert.

Dann sind die Fotos der Kolonialherren die einzige Spur?

Nicht die einzige, aber eine sehr wichtige. Aber um sie zu interpretieren, ist eben auch der Blick der NamibierInnen darauf notwendig. Allein schon, um den „kolonialen Blick“ nicht fortzuschreiben, also dass die Verfügungs- und Deutungsmacht allein bei den Kolonisierenden und ihren Nachfahren liegt. Wenn wir schon die Stimmen der Fotografierten nicht haben, wollen wir wenigstens die Stimmen der übernächsten Generation einbeziehen. Vielleicht hilft das, die traumatische Erfahrung zu bewältigen.

Zeigen die Fotos Gewalt?

Das Namibia-Konvolut des Völkerkunde-Museums enthält keine reinen Gewalt-Fotos. Es sind eher indirekte Szenen; man sieht zum Beispiel Herero-Frauen vor Eisenbahnschienen sitzen. Deuten kann man es nur, wenn man weiß – und deshalb ist die wissenschaftliche Aufarbeitung des Kontexts so wichtig –, dass diese Frauen beim Eisenbahnbau Zwangsarbeit leisteten, mit hohen Todeszahlen. In anderen Archiven gibt es aber durchaus Gewaltfotos. So habe ich selbst eine Karte mit dem Foto eines Gehenkten gefunden, auf dessen Rückseite „Frohe Weihnachten“ stand und eine Adresse in Deutschland.

Wer hat die Fotos gemacht?

Es waren deutsche Soldaten, Kolonialbeamte und Reisende. Der Großteil der Sammlung im Museum für Völkerkunde Hamburg stammt aus einem jüngst wieder aufgefundenen Konvolut eines Schutztruppenoffiziers, Alexander von Hirschfeld. Wir wollen zeigen: Wie funktioniert der koloniale Blick dieser Fotos? Und wie kann die heutige Generation damit umgehen?

Kolonialer Blick meint: Das Opfer wird verdinglicht?

Ja. Oder das Opfer ist sprachlos, ist ein Objekt, muss sich irgendwo hinstellen und fotografieren lassen. In einem anderen Projekt fiel uns auf: Afrikanische Menschen werden stets fast unbekleidet gezeigt, arabische Menschen immer bekleidet.

Wie kommen die Fotos ins Hamburger Völkerkundemuseum?

Teils waren es wohl Schenkungen der beteiligten Offiziere, aber das ist noch nicht erforscht.

Auch andere Exponate kamen auf unklaren Wegen in Völkerkundemuseen. Sollte Provenienzforschung verpflichtend werden?

Ja. Ich schlage vor, komplett umzudenken. Bislang wird immer noch so getan, als sei alles rechtmäßig dort, bis das Gegenteil nachgewiesen ist. Aber im Kolonialismus war das Machtgefälle so groß, dass man die Beweislast umkehren muss. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas unrechtmäßig oder unter Druck erworben wurde, ist so groß, dass wir von einem Unrechts-Erwerb ausgehen müssen – bis der rechtmäßige Erwerb bewiesen ist. Und rechtmäßig nicht nur nach deutschem Recht!

Sollte man Objekte unklarer Herkunft überhaupt ausstellen?

Ja, natürlich. Viele Herkunftsgesellschaften sagen sogar: Zeigt uns, was ihr in den Magazinen habt. Aber wer das tut, muss kenntlich machen, dass der Erwerbungskontext problematisch ist. Und er muss fragen: Gibt es jemanden, der es als Raubgut erkennt und zurück haben möchte?

Wie stark hat Hamburg vom Kolonialismus profitiert?

Sehr. Es war die zentrale Hafenstadt des deutschen Kaiserreichs. Dass Deutschland Kolonien hatte, geht unter anderem auf eine Petition der Handelskammer von 1883 zurück, in der die Hamburger Kaufleute Bismarck baten, die westafrikanischen Handelsniederlassungen unter deutschen Schutz zu stellen, also Kolonien zu gründen. Hamburg war zentrales Einfuhrtor für koloniale Güter. Es war Angelpunkt zwischen der kolonialen Welt und dem Deutschen Reich.

Mit dem Hafen als Drehscheibe.

Ja, und nicht nur für Güter. 90 Prozent der Truppen, die den Genozid an den Herero und Nama verübten, wurden etwa vom Hamburger Baakenhafen aus verschifft. Die Woermann-Linie hat sogar Eintrittskarten für die Abschiedspartys vor Abfahrt dieser Schiffe verteilt. Auch Lothar von Trotha, der diesen Genozid befehligte, fuhr in Hamburg ab und kam in Hamburg wieder an. Das ist schon sehr exponiert.

Ist Hamburg bei der Aufarbeitung genauso exponiert?

Ja, als Hamburgs Senat 2014 beschloss, dass Hamburg das koloniale Erbe aufarbeiten und ein stadtweites Erinnerungskonzept entwickeln müsse, war er damit allein auf weiter Flur. Zumal es keine bloße Absichtserklärung war, sondern eine dreijährige Anschubfinanzierung für die „Forschungsstelle Hamburgs (post)koloniales Erbe“ umfasste. Inzwischen gibt es in Berlin und Bremen ähnliche Absichtserklärungen. Aber mit dem Aufbau konkreter Strukturen war und ist Hamburg deutschland-, wenn nicht europaweit einmalig.

Was genau macht Ihre Forschungsstelle, die auch das Fotoprojekt betreut?

Wir suchen und erforschen die kolonialen Spuren in Hamburg und erforschen die Verflechtung mit dem Kolonialismus auf allen Ebenen von Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft. Und wir machen erstaunliche Entdeckungen, beispielsweise zur Rolle der Theater.

Auch sie waren beteiligt?

Ja. Die Frage ist hier: Welche Rolle spielten Theater im Kaiserreich bei der Propagierung der kolonialen Idee? Dazu gibt es nirgendwo Forschungen. Und plötzlich finden wir immer mehr Orte, an denen Stücke mit kolonialen Stoffen gespielt wurden. Giacomo Meyerbeers Oper „Die Afrikanerin“ zum Beispiel war sehr populär – bis sie 1933 abgesetzt wurde, weil der Komponist Jude war.

Ein weiteres Beispiel?

Nehmen Sie die Hamburger „Sülze-Unruhen“ 1919 – Arbeiterunruhen wegen verdorbener Lebensmittel. Die schlug General Paul Emil von Lettow-Vorbeck, als „Kolonialheld“ frisch aus Afrika zurück, so brutal nieder, dass man ihm sagte, er sei hier nicht in Afrika. Solche Spuren dröseln wir auf.

Kürzlich hat Hamburgs Senat endlich entschieden, Ihre Forschungsstelle auf Dauer zu fördern. Dann ist ja alles gut.

Jedenfalls ist es ein gutes Signal weit über Hamburg hinaus. Schließlich bedeutet die Befassung mit Kolonialgeschichte im Grunde Zukunftsforschung. Wenn wir Europäer nicht verstehen, wie die außereuropäische Welt uns aufgrund der Kolonialgeschichte sieht, wird Europa nicht fähig sein, die richtigen Entscheidungen für die Zukunft zu treffen.

Sie spielen auf die modernen Migrationsgesellschaften an.

Ja – aber ich meine es auch generell: Man kann den Diskurs „Europa hat alles aus eigener Leistung geschaffen, und jetzt kommen die Migranten und wollen etwas abhaben“ nicht isoliert stehen lassen. Diese Meistererzählung blendet aus, dass die Europäer über 500 Jahre lang in andere Kontinente und Regionen fuhren und sie ausbeuteten. Und dass die Migration jetzt die Richtungsumkehr ist. Ähnliches sehen Sie in der Verlagerung der Zentren der Weltwirtschaft von Europa weg etwa nach Asien. Die Globalisierung hat eine Geschichte, und diese Geschichte ist die des europäischen Kolonialismus seit 1415.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.