Antiziganismus in der Ukraine: „Geschossen, bis einer tot war“
Bei einer Bluttat in einem Provinzstädtchen stirbt der Sprecher der örtlichen Roma. Der Hauptverdächtige ist der Ex-Bürgermeister.
Trotz der Hitze trägt die Alte ein rosa Kopftuch und einen grauen Regenmantel. Wer schuld an dem Drama sei, wisse sie natürlich nicht. Aber „die Zigeuner“ haben sich offensichtlich in eine Falle locken lassen. Der ehemalige Bürgermeister habe sie zum Gespräch eingeladen, tatsächlich aber habe man sie nur kommen lassen, um auf sie zu schießen.
Sie, beeilt sich die Alte, habe nichts gegen Roma. „Sehen Sie sich doch hier mal die Bushaltestelle an. Überall Zettel, auf denen die Bewohner ihre Wohnungen zum Verkauf anbieten. Und kein Einziger mit einer Wohnungssuche.“ Die Leute wollten weg. Warum die Roma vertreiben? Dann werde die Stadt ja noch schneller aussterben. „Die zahlen ihre Steuern, leben wie wir in normalen Wohnungen, sie arbeiten.“
Ein Anwohner gesellt sich hinzu. Der ehemalige Bürgermeister Alexeij Litwinow und sein Sohn Andreij, der jetzt Bürgermeister ist, seien von der Jagd gekommen an diesem tragischen 16. Mai, berichtet der Mann. Betrunken seien sie gewesen und hätten Waffen gehabt. Und dann habe der alte Litwinow die Roma aufgefordert, ins Zentrum zu kommen, man wolle mit ihnen über Probleme reden. Und auf einmal habe er Männer herbeigewinkt, die sich am Rande aufgehalten hätten. Die waren bewaffnet und schossen auf die Roma. „So lange, bis einer tot war.“
Ex-Bürgermeister nur noch unter Hausarrest
6.000 Seelen zählt das Städtchen Wilschany, 45 Busminuten von der zweitgrößten Stadt der Ukraine, Charkiw, entfernt. Eigentlich ein beschaulicher Fleck: Menschen vor Hauseingängen, einen Tee oder auch einen Wodka in der Hand, frei laufende Hühner, streunende Hunde – und ein Mord, der noch lange nicht aufgeklärt ist. Am Montag hatte ein Gericht den 52 Jahre alten Alexeij Litwinow, bis 2015 Bürgermeister von Wilschany und seitdem Abgeordneter für die Partei „Wiedergeburt“ im Bezirksparlament in Charkiw, aus der Untersuchungshaft entlassen und einen auf die Nachtstunden beschränkten Hausarrest angeordnet. Zwei weitere Verdächtige bleiben ganz auf freiem Fuß.
In der kleinen Markthalle nebenan werden nicht nur Kartoffeln, Knoblauch, Tomaten und Speck gehandelt, sondern auch Ansichten und manche Sorgen. Alles werde teurer, die Heizung, der Strom und vor allem die medizinische Versorgung, schimpft eine Frau. Doch das Schlimmste seien die jungen Männer. „Die denken doch nur an Alkohol, hängen den ganzen Tag herum. Und wenn man sie fragt, was los ist, jammern sie, dass sie keinen Job haben. Und wir Frauen müssen sehen, dass wir unsere Söhne und Männer durchbringen.“ Irgendetwas habe sie falsch gemacht, meint sie. „Schauen Sie sich die Litwinows an. Die haben gut ausgesorgt, die gehen auf die Jagd und fahren teure Autos.“
Petr Kaspizkij hockt in einem alten, staubigen Lada. „Jetzt ist es wichtig, auf juristischem Wege die Ehre meines Vaters wiederherzustellen“, sagt der 23-jährige Sohn des Erschossenen. Er deutet auf die Fahrzeugpapiere des Vaters, ein Mann mit schmalem Gesicht. Der Roma-Sprecher Nikolaj Kaspizkij ist gerade mal 50 Jahre alt geworden. Die Mutter leide seit seinem Tod an Herzbeschwerden.
Mit Gummi und Blei
Petr Kaspizkij erzählt, dass sich am Vorabend der Schießerei Litwinows Sohn, der Ortsbürgermeister, und sein jüngerer Bruder Ruslan gestritten hätten. Die Väter der beiden hätten sich danach für den nächsten Morgen verabredet. Dort sei es dann zu der Gewalttat gekommen, bei der auch Gummigeschosse eingesetzt worden seien. Er selbst sei von einem an der Wade verletzt worden. Den Vater aber traf eine Kugel aus Blei.
Mit der Bevölkerung, beteuert auch Petr Kaspizkij, habe die knapp hundert Personen große Roma-Gemeinde keine Probleme. Die Roma lebten in Wohnungen, seien hier geboren, hätten hier geheiratet. Er hatte im Betrieb des Vaters gearbeitet, eines Schrotthändlers. Wenn hier gegen die Roma gehetzt werde, sagt Kaspizkij, komme es von der Familie Litwinow, die die gesamte Macht im Städtchen innehabe. Der Vater Abgeordneter in Charkiw, der Sohn Bürgermeister in einem Ort mit wenig Perspektive, aber hoher Arbeitslosenquote. Und die beiden hätten irgendwann einen Sündenbock gesucht. „Und das sind wir Roma.“
Die Litwinows hätten auch die Forderung erhoben, die Roma, die seit mehr als 50 Jahren in der Stadt leben, zu vertreiben, sagt ein weiterer Rom. Der Litwinow-Clan habe Geld und damit kaufe er Einwohner. Zwanzig Euro habe jeder bekommen, der seine Unterschrift unter diese Forderung gesetzt habe, sagt der Rom, der anonym bleiben will. Sie würden auch Leute bezahlen, die vor Kameras schimpften und behaupteten, die Zigeuner hätten die Litwinow-Familie überfallen. Und auf YouTube kann man tatsächlich Männern zusehen, die in ihren Wohnstuben wortreich auf die Roma schimpfen.
„Sollen die Roma Wilschany verlassen?“
Doch die Stimmung in Wilschany scheint, zumindest auf den ersten Blick, nicht romafeindlich zu sein. Freundschaftlich sieht man Roma mit anderen vor einem Geschäft stehen und reden. Stimmungen können allerdings gelenkt werden. Bei einer nach der Schießerei angesetzten Gemeindeveranstaltung macht sich der Volkszorn jedenfalls gehörig Luft. Die Versammlung hatte das Thema „Sollen die Roma Wilschany verlassen?“, und vom Podium blickte Bürgermeister Andrej Litwinow, Sohn des Hauptverdächtigen.
Zu einer gerichtlichen Anhörung seines Vaters waren 50 Unterstützer aus Wilschany angereist. Bei dieser Gelegenheit erklärte ein Abgeordnete des Gemeinderats nochmals, dass es an der Zeit sei, dass die Roma Wilschany verlassen. Alexej Litwinow, ein vierschrötiger Kerl mit Stiernacken und Stoppelschnitt, hatte zuvor noch einmal seine Unschuld beteuert. Rein zufällig sei er bei der Schießerei zugegen gewesen.
Die Iwanowstraße 27 in Charkiw ist eine Prestigeadresse, doch wer das Büro der „Menschenrechtsgruppe Charkiw“ aufsucht, ist schnell in einer anderen Welt. Hier stehen verrostete Autos, hängt die Wäsche aus den Fenstern, und im Erdgeschoss warten geduldig Menschen, bis eine der Anwältinnen Zeit hat. Zu Natalija Ochotnikowa kommen viele Roma. Ja, sie habe von den Drohungen gehört, die Roma von Wilschany zu vertreiben, und sie weiß von mindestens acht Roma, die nach der Bluttat im Krankenhaus behandelt wurden.
Wie eine Dissidentenwohnung
Jewgenij Sacharow, der Vorsitzende der Gruppe, hat zugehört. Jetzt aber schaltet er sich ein. „Es gibt auch erfreuliche Entwicklungen.“ Nachdem Zweifel an den Ermittlungen der lokalen Behörden aufgekommen seien, habe er sich an diese mit der Bitte gewandt, Ermittler aus Kiew kommen zu lassen. Wenig später seien diese gekommen, freut sich Sacharow, dessen Büro wie eine sowjetische Dissidentenwohnung aussieht. Bücher verdecken die alten Tapeten, an der Wand ein Plakat von Amnesty International.
Doch auch diese Ermittler werden nicht zu schnellen Ergebnissen kommen, bleibt Anwältin Ochotnikowa skeptisch. Denn bei der Gewalttat seien vor dem Rathaus von Wilschany etwa 40 Männer auf engstem Raum zusammengetroffen. Es sei schwer, auf den vorhandenen Aufnahmen die Täter von den Opfern zu unterscheiden. Sacharow sieht die Ausschreitungen von Wilschany als Ausfluss des Antiziganismus in der ukrainischen Bevölkerung. So habe man kurz vor dem Eurovision Song Contest im Mai in Kiew ein Romalager geräumt, und in der Nähe von Odessa hatten Roma 2016 aus Angst um ihr Leben ihr Dorf unter Polizeischutz verlassen müssen. Neu an Wilschany sei, dass man nun auch gegen Roma vorgehe, die seit Langem integriert seien.
Nikolaj Burlutzkij hat keine Zeit für ein Treffen im Büro. Er will an einer Bushaltestelle in Charkiw reden. Für den Juristen, Roma-Sprecher, Menschenrechtsaktivisten und Prediger einer christlichen Gemeinde sind die Ereignisse von Wilschany nur die Spitze des Eisbergs. „Je tiefer in der Provinz die Roma leben, umso rechtloser sind sie“, sagt er. In Großstädten wie Charkiw und Kiew würden NGOs und Medien darauf achten, dass es zumindest öffentlich wird, wenn Roma verfolgt werden. Auf dem Land sei oft niemand da.
„Wir sind auch Ukrainer“
Falsch sei außerdem, dass politischen Amtsträger Übergriffe auf die Roma nicht als ihr Problem betrachten. „Immer wieder wird von Konflikten zwischen Roma und Ukrainern gesprochen“, erzählt Burlutzkij. „Wir sind auch Ukrainer“, bekräftigt er das Offensichtliche. „Wenn sich der Staat aber nicht der Roma annimmt, wird die Xenophobie zunehmen, und dann haben nicht nur die Roma, sondern dann hat auch die Ukraine selbst ein Problem.“
Dabei hat die Ukraine eine Vision: Vor dem Rathaus von Wilschany hängen die Flaggen der Ukraine und der EU einträchtig in der Sommerhitze – stumme Zeugen, als Nikolaj Kaspizkij eine Kugel in den Rücken traf.
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