piwik no script img

Filmstart von „Der Stern von Indien“Spielball der britischen Kolonialpolitik

Gurinder Chadha erzählt von der indischen Teilung und der Kolonialzeit – und scheut dabei keine Elemente des Bollywood-Kinos.

Vor dem Ausbruch: In Gurinder Chadhas neuester Arbeit geht es um Indien kurz vor dem Ende der Kolonialzeit Foto: filmstill/c_tobis_film

20. Februar 1947: Der britische Premierminister Clement ­Attlee ernennt Louis Francis Albert Victor Nicholas Mountbatten zum letzten Vizekönig von Indien, dessen vorrangige Aufgabe darin besteht, Indien bis spätestens Juni 1948 aus dem Status einer britischen Kronkolonie zu entlassen. Am 22. März 1947 landet Mountbatten per Flugzeug in Delhi und nimmt die Arbeit auf.

Die britisch-indische Regisseurin Gurinder Chadha (bekannt vor allem durch den Fußball-Coming-of-Age-Film „Kick it like Beckham“) schildert in ihrem neuesten Film „Der Stern von Indien“ die letzten Monate vor der indischen Unabhängigkeit. Sie konzentriert sich dabei ganz auf die Verhandlungen und das Leben im Palast des Vizekönigs. „Der Stern von Indien“ beginnt in den letzten Stunden vor Eintreffen Mountbattens. Der ganze prunkvolle Palast ist eine große Putzorgie – Galerien werden gefeudelt, Kescher durch den Pool gezogen, Instrumente poliert. Zur Begrüßung Mountbattens wird noch einmal aller koloniale Prunk aufgefahren.

Schon kurz nach ihrer Ankunft zeigen sich Mountbatten und seine resolute Frau Edwina bemüht, ein Verständnis für die komplexe Situation zu gewinnen. Parallel versuchen sie, mit den zerstrittenen Fraktionen der indischen Unabhängigkeitsbewegung ins Gespräch zu kommen: Die nationalistische indische Kongresspartei unter Jawaharlal Nehru und Mahatma Ghandi erhebt den Anspruch, alle Teile der Bevölkerung zu vertreten und will eine Teilung Indiens unter keinen Umständen akzeptieren. Für die islamisch-nationalistische Muslimliga unter Muhammad Ali Jinnah hingegen ist die Teilung unabdingbar.

Unter dem Eindruck von immer heftiger werdenden Gewaltausbrüchen in der Provinz Punjab verkürzt Mountbatten den Zeitplan für die Unabhängigkeit und schlägt der britischen Regierung die Teilung vor. Inmitten von Aufständen beginnt die Planung für die Grenzziehung. Am 15. August 1947 soll Indien nach fast 200 Jahren britischer Kolonialherrschaft unabhängig werden.

Leben gegen vermeintlich klare Fronten

Chadha kontrastiert die politischen Zerwürfnisse mit dem Leben der indischen Angestellten des Palastes, konfrontiert die vermeintlich klaren Fronten der Politik mit den Auswirkungen ebendieser Politik auf das Leben der Menschen. Vor allem aber stellt sie der Politik die Liebesgeschichte zwischen dem jungen Hindu Jeet und der Muslima Aalia gegenüber.

Aalia hat die Arbeit im Palast des Vizekönigs aufgenommen, nachdem ihr Vater erblindet ist und sie den Lebensunterhalt der Familie verdienen muss. Ein Umstand, in dem sie eher Emanzipation als Mühsal sieht. Jeet wiederum ist aus dem Punjab in den Palast gekommen, nachdem er sich nicht länger im Stande sah, als Polizist die Anführer der Kongresspartei im Gefängnis zu bewachen.

Der Film

„Der Stern von Indien“. Regie: Gurinder Chadha. Mit Hugh Bonne­ville, Gillian Anderson u. a. Großbritannien/Indien 2017, 106 Min.

„Der Stern von Indien“ setzt deutlicher als die bisherigen Filme Chadhas auf Elemente des populären indischen Kinos. So etwa in einer Massentanzszene, bei der es zu Konflikten zwischen Hindus und Muslimen kommt. Zudem räumt der Film der Liebesgeschichte beinahe genauso viel Raum ein wie den politischen Ereignissen. So viel Raum, dass man sich fragen kann, ob der Film ein Historienfilm mit Liebesgeschichte oder eine Liebesgeschichte mit historischem Hintergrund ist.

Andererseits flicht Chadha immer wieder Archivmaterial der historischen Ereignisse in die Erzählung ein, um den Kontext sichtbar zu machen. Und die politische Handlung von „Der Stern von Indien“ ist nahezu von Zeitgeschichte überladen. Zuallererst durch den Vorlauf der Konflikte: Die britische Kolonialherrschaft in Indien basierte – wie die vieler europäischer Kolonisatoren – auf dem Prinzip „teile und herrsche“. Wann immer möglich, wurden religiöse und politische Spannungen instrumentalisiert, um geeinte Forderungen nach natio­naler Unabhängigkeit zu vermeiden.

Briten überließen das Feld islamischen Nationalisten

In den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs dringen die USA zunehmend auf ein Ende der britischen Kolonialherrschaft. 1942 gibt die britische Regierung unter Winston Churchill diesem Drängen nach und unterbreitet der wichtigsten Fraktion, der Kongresspartei, das Angebot, Indien nach dem Ende des Krieges in die Unabhängigkeit zu entlassen. Das Angebot wurde von der Kongresspartei abgelehnt, weil es eine Klausel enthielt, die das Potenzial zur Teilung Indiens hatte.

In der Folge inhaftierten die Briten die Führung der Kongresspartei und überließen so das Feld islamischen Nationalisten, die für ein unabhängiges Gebiet der muslimische Bevölkerung Indiens agitierten – dem späteren Pakistan. Dass Mountbatten sich zwei tief zerstrittenen Fraktionen gegenüber sieht – im Film weist Nehru darauf hin –, ist das Ergebnis jahrzehntelanger britischer Kolonialpolitik.

Ist das nun ein ­Historienfilm mit Liebesgeschichte oder eine Liebesgeschichte mit historischem Hintergrund?

Zugleich markieren die Ereignisse des Films eine Zäsur in der Geschichte Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Aus unterschiedlichen Gründen war das Ende des europäischen Kolonialsystems nur noch eine Frage der Zeit. Zeit, die die Briten darauf verwandten, für die wirtschaftliche und politische Bindung der Noch-Kolonien nach der Unabhängigkeit vorzubauen. Einer der zentralen Bausteine dabei war die weitere Zugehörigkeit zum Commonwealth.

Frankreich hingegen versuchte seine Kolonialherrschaft nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mit allen Mitteln zu verteidigen. Die indische Unabhängigkeit (und Teilung) markiert den Beginn einer langen Serie der Dekolonialisierung, die bis zur Unabhängigkeit Namibias 1990 andauern sollte.

Schweren Polit-Kram will keiner sehen

Chadhas Darstellung der Ereignisse folgt weitgehend dem Buch „The Shadow of the Great Game“ des indischen Diplomaten und ehemaligen Assistenten von Mountbatten, Narendra Singh Sarila. Wie Sarila stellt auch Chadha Vizekönig Mountbatten weniger als Akteur dar denn als Spielball der britischen Kolonialpolitik.

In einem Interview anlässlich der Premiere von „Der Stern von Indien“ auf der diesjährigen Berlinale äußerte sich Chadha zur Rolle der populären Elemente in ihrem Film: „Für mich war es immer wichtig, dass die Filme, die ich mache, den Leuten gefallen sollen, von denen sie handeln. Ich will Filme machen, die normale Menschen verstehen und mögen können – und das gilt auch für diesen. Ich will keine schweren politischen Filme machen, weil ich genau weiß, dass meine eigenen Kinder das nicht sehen wollen würden. Ich betrachte Film als eine Möglichkeit, Informationen und wichtige Perspektiven zu vermitteln.“

Chadha nutzt den Balanceakt zwischen Politik und Populärem, um Aufmerksamkeit für das historische Ereignis der Teilung zu erzeugen, das sich in diesem Jahr zum 70. Male jährt. Das mag bei Zuschauern, die an Autorenkino gewöhnt sind, zu Irritationen führen. Chadha steht mit dieser Tradition jedoch nicht allein, das populäre indische Kino hat eine Tradition von Filmen zu politischen Themen. Beispiele aus jüngerer Zeit wären Vidhu Vinod Chopras „1942: A Love Story“ von 1994, ein Liebesdrama in den letzten Jahren der Kolonialherrschaft, die indisch-kanadische „Elemente“-Trilogie der Regisseurin Deepa Mehta („Feuer“ 1996, „Erde“ 1998, „Wasser“ 2005), Ashutosh Gowarikers Cricket-Kolonialfilm „Lagaan“ von 2001 oder die Blödelkomödie „Tere Bin Laden“ von 2010, die Bin Laden und den US-Kampf gegen den Terror gleichermaßen durch den Kakao zieht.

Wenn sich ausreichend Zuschauerinnen und Zuschauer von den Verlockungen des Liebesdramas, des Tanzes und dem Kolorit dazu verleiten lassen, sich eine Geschichte über ein historisches Ereignis, von dem sie zuvor nie gehört haben, anzusehen – dann ist Chadhas Rechnung geglückt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Forster: Auf der Suche nach Indien.

    Immer noch der Klassiker zur Kolonialzeit.