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Debatte Antisemitismus an SchulenFriedenau ist überall

Kommentar von Sergey Lagodinsky

Wenn jüdische Kinder und Eltern in Schulen drangsaliert werden, muss die Gesellschaft reagieren: mit Solidarität. Und mit Härte.

Immer mehr Fragen stellen sich, die sich nicht mit Kranzniederlegungen beantworten lassen Foto: imago/Christian Thiel

U nd da sitzen sie alle wieder: die Politiker, die jüdischen Funktionäre, die zuverlässigen Freunde Israels und hyperaktive „Judenfreunde“. Nach Jahrzehnten ist das Erinnern für sie eine Routineübung. Und wenn einer wie ich sich an einem der Termine entschuldigen muss, dann kommt es ihm vor, als hätte er den Termin nicht verpasst, so vertraut sind mittlerweile die erinnerungspolitischen Rituale.

Der Termin im Bundestag ist für den 27. Januar im Handykalender als Wiederholungstermin für die Ewigkeit eingetragen, die Kranzniederlegung im Gemeindehaus ebenso. Und doch bleibt eine deutsch-jüdische Frage: Was wollen all diese Menschen? Was suchen sie hier, auf dem Friedhof des jüdischen Lebens? Wo findet man sie in der jüdischen Gegenwart? Im Armuts­alltag der jüdischen Alten, im Schulalltag jüdischer Kinder?

Es ist eine beträchtliche gesellschaftliche Leistung, mit der eigenen Geschichte ins Reine zu gelangen. Der Weg dahin war ein Ringen um die Seele dieser Gesellschaft. Und nun stehen wir am Ende dieses Wegs selbstgefällig da und müssen unerwarteterweise nicht mehr um, sondern gegen die Schatten der Vergangenheit kämpfen, die zur Gegenwart auf ­unseren Schulhöfen zu werden drohen.

Es geht hier nicht darum, unpassende Vergleiche zu ziehen. Weder steht der Holocaust vor der Tür noch leben wir in einer Gesellschaft, in der Antisemitismus unseren Alltag bestimmt. Aber schon jetzt bestimmt er den Alltag vieler unserer Schüler. Und das ist schon jetzt viel mehr, als viele von uns je befürchtet haben. Der Alltag unserer Schulen ist die Zukunft unseres Landes – das ist Warnung genug. Und eine Frage, die jüdische Menschen an diese Gesellschaft richten. Es stellen sich immer mehr Fragen, die sich nicht mit Kranzniederlegungen beantworten lassen.

Koordinatensystem Klassenzimmer

Klassenzimmer sind Ursprungspunkte des Koordinatensystems einer jeden Gesellschaft; wie drei Achsen treffen dort unsere Vergangenheit, unsere Gegenwart und unsere Zukunft auf einander. Was die Presse vor Kurzem aus einem dieser Klassenzimmer berichtete, zeigt, dass die Koordinaten gründlich aus den Fugen geraten sind: Ein jüdischer Junge wurde an einer Berliner Schule monatelang von Mitschülern antisemitisch angegriffen; die Schule, die sich stolz „Schule ohne Rassismus“ nennt, schien überfordert, den Eltern wurde nahegelegt, den Jungen abzumelden, was sie auch taten.

Andere Schuleltern schrieben ihnen einen Brief hinterher, indem der Presse vorgeworfen wurde, den Fall übertrieben dargestellt zu haben: „Religiös bedingte Auseinandersetzungen“ könne es ja „zwischen Juden und Arabern“ geben, schließlich gebe es im Nahen Osten den einschlägigen Konflikt, warum also nicht in Berlin-Friedenau.

Welche Antworten haben wir an eine Mutter, die ihrem jüdischen Sohn beigebracht hatte, sich in Deutschland nicht, wie seine Großeltern, seiner Herkunft wegen zu fürchten, und der sie fragt, warum andere einander Jude schimpfen?

Es gibt schlimmere Nachrichten als diesen einen Fall. Und die lauten: Dieser Fall ist längst Alltag. Friedenau ist überall! Seit Monaten, ja schon Jahren erreichen uns Berichte über die Zustände an deutschen Schulen: „Jude“ als Schimpfwort auf den Schulhöfen, Schüler, die sich weigern, über den Holocaust zu lernen, jüdische Lehrerinnen, die von Schülern antisemitisch terrorisiert werden.

Mag sein, dass einiges davon unbestätigt bleibt, mag sein, dass einiges pubertäres Gehabe oder Provokationen sind, die sich nicht gegen konkrete Juden richten. Doch welche Antworten haben wir an eine Mutter, die ihrem jüdischen Sohn beigebracht hatte, sich in Deutschland nicht, wie seine Großeltern, seiner Herkunft wegen zu fürchten, und der sie fragt, warum andere einander „Jude“ schimpfen?

Antisemitismus ist Gesinnung und Verhalten zugleich

Unsere Antwort kann nicht darin bestehen, dass jüdische Kinder wieder lernen, ihre Identität zu verstecken. Unsere Antwort kann sich nicht in der Empfehlung erschöpfen, dass jüdische Eltern ihre Kinder auf andere, jüdische oder private, Schulen ummelden. Das sind keine Antworten, sondern Zeichen unseres gemeinschaftlichen Versagens.

Vielerorts wird an nachhaltigen Konzepten gefeilt, um des Problems Antisemitismus auf den Schulen langfristig Herr zu werden. Doch „langfristig“ ist viel zu spät! Antisemitismus ist Gesinnung und Verhalten zugleich. Gesinnung zu ändern, braucht Zeit. Verhaltensänderung muss sofort passieren.

Sergey Lagodinsky

ist Mitglied der Repräsentantenversammlung der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Autor von „Kontexte des Antisemitismus“ (Metropol Verlag 2013).

Gerade im Moment der kulturellen Transformation unserer Gesellschaft ist es wichtig, mit aller erzieherischen, notfalls rechtlichen Härte zu reagieren, und zwar sofort, nicht um zu bestrafen, sondern um klare Regeln zu verdeutlichen. Nur so lassen sich eine Ausbreitung und eine Normalisierung antisemitischer Verhaltensmuster stoppen.

Wichtig ist auch: Antisemitische Angriffe dürfen weder als Auswüchse der neuen Vielfalt noch als Folgen politischer Konflikte abgetan werden. Der Konsens unserer Gesellschaft, wonach Antisemitismus unter keinem Vorzeichen akzeptabel bleibt, darf nicht aufgeweicht werden.

Ausbruch aus der Komfortzone

Das wird nicht gehen, ohne dass die Mehrheitsgesellschaft sich mit jüdischen Kindern und ihren Eltern bedingungslos solidarisiert. Diese Solidarisierung könnte einigen von uns abverlangen, aus der Komfortzone des guten Multikultigewissens auszubrechen, um Position zu beziehen. Doch denen, die einen Konflikt zwischen der eigenen Willkommenskultur und klaren Ansagen gegen Antisemitismus und andere Formen der Intoleranz sehen, sei gesagt: Das eine widerspricht dem anderen nicht.

Umgekehrt: Nur wer kurzfristig klare Ansagen für ein gutes Zusammenleben zwischen verschiedenen Minderheiten und Mehrheiten macht, kann langfristig eine funktionierende Vielfaltsgesellschaft erwarten. Besorgten Eltern, die eine Auseinandersetzung mit Antisemitismus der Schüler als übertriebene Stimmungsmache betrachten, könnte man sagen: Sehen Sie es als eine Übung im zivilgesellschaftlichen Widerstand für sich und ihre Kinder.

Angesichts der antisemitischen Übergriffe der Schüler geht es nicht um Antisemitismus des schulischen Umfelds, sehr wohl aber um unser aller Unbeholfenheit, Antisemitismus zu erkennen und wirksam zu begegnen. Es geht um unser vielfaches Versagen, Kinder zu schützen, die Schutz und Solidarität brauchen, weil sie das sind, was sie sind – Juden.

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4 Kommentare

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  • Ja pädagogische Anstrengungen sind hier angesagt.

    Es würde mich auch freuen wenn die unterschiedlichen Positionen von Juden in Deutschland zum Konflikt in Nahost geäußert würden. Das ist aber politische Debatte.

     

    Die Angriffe gegen MitschülerInnen weil sie Juden sind, also die Zuordnung qua Religion/ Ethnizität mitschuld zu sein an der Politik Israels, da werde ich wütend. Das ist keine politische Debatte.

  • Der Hinweis auf die Zeit der kulturellen Transformation unserer Gesellschaft ist interessant. Leider gab und gibt es in Zeiten der kulturellen Transformation in unserer Gesellschaft immer die Kontinuität des Antisemitismus. Die Verbrechend der Nazis werden verurteilt. Die Kontinuität des Denkens, des Fühlens und der Kultur bleibt über Lippenbekenntnisse hinaus weitgehend ungebrochen. Das hat besonders gut Götz Aly in seinem Buch -Unser Kampf 1968- beschrieben. Die Arbeit von Götz Aly hat gezeigt, wie nach dem großen Verbrechen ein uraltes kulturell verwurzeltes Ressentiment in eine neue Rechtfertigung kanalisiert wird. Wie sehr das „gelungen“ ist zeigt auch die Kaltschnäuzigkeit, mit der in dem Elternbrief die religiöse Identität herangezogen wird, um einen Bogen zum Nahostkonflikt zu spannen und damit die Drangsalierungen gegen einen 14-jährigen Jungen, dessen Eltern aus Großbritanien stammen, zu erklären. Nicht die Täter, sondern das Opfer musste die Schule verlassen. Die Kontinuität des Denkens, Handelns und des Fühlens in unserer Kultur ist erschreckend.

  • Verehrter Herr Lagodinsky,

     

    hinsichtlich des von Ihnen erwähnten Armutsalltags der jüdischen Alten empfehle ich die Lektüre über Jan-Robert von Renesse und dem Umgang des NRW Justizministerium mit diesem Mann. Hat sich die Landesmutter, die Sonntag wiedergewählt werden möchte gekümmert? https://www.welt.de/politik/deutschland/article153500869/Richter-kaempft-fuer-NS-Opfer-und-wird-verklagt.html

     

    Zitat:

     

    „Das NRW-Justizministerium hat den 49-jährigen Richter vor dem Dienstgericht verklagt. Grund: Er habe dem Ansehen der Justiz öffentlich geschadet. Es geht um eine Petition von Renesse an den Bundestag 2012. Darin weist er auf Mängel im Gettorentengesetz hin und schreibt auch über „Vorkommnisse aus der Sozialgerichtsbarkeit von NRW, die den israelischen Holocaust-Überlebenden ein faires rechtsstaatliches Verfahren unmöglich machten“.“

     

    Zitat Ende

     

    Außerdem ist das hier interessant zu lesen: http://www.gemeinschaftsschule-schoeneberg.de/home/

    Finden sie in diesem Lippenbekenntnis eine Distanzierung der Schulleitung oder anderer Gremien der Schule von dem von Ihnen erwähnten Brief der Schuleltern?

     

    Erinnern Sie sich als im Spätsommer 1996 die hervorragende Analyse von Daniel Goldhagen: „Hitlers willige Vollstrecker“ erschien? Wie nicht nur das deutsche Feuilleton Amok lief?

     

    Man kümmert sich nicht so gerne um unsere Vergangenheit, sondern lieber um das, was uns nichts angeht. Schauen Sie hier: http://nahost-forum-bremen.de/

     

    So etwas geht nicht spurlos an unseren Kindern vorbei.

  • Eigentlich sollte immer reagiert werden, wenn Kinder in der Schule drangsaliert werden.