„Tagesanzeiger“ hält Porträt zurück: Lieber nicht verscherzen
Ein Autor des Schweizer „Tagesanzeiger“ schrieb ein Porträt über den „NZZ“-Chef – und ließ ihn gegenlesen. Erschienen ist der Text nie.
Der Schweizer Tagesanzeiger hat offenbar in letzter Minute ein Porträt über den Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, Eric Gujer, zurückgezogen. Das berichtet das Branchenportal persoenlich.com und bezieht sich auf „übereinstimmende Quellen“ aus dem Umfeld des Tagesanzeigers.
Das Portal berichtet, der NZZ-Chef habe das Portrait des Tagesanzeiger-Autors Thomas Widmer gegengelesen und als „persönlichkeitsverletzend“ bezeichnet. Aus Angst vor einer Klage habe man daraufhin beim „Tagi“ auf den Druck des Textes verzichtet.
Der Text kursiert allerdings inzwischen im Netz. Darin charakterisiert der Autor Gujer als „kalt“ und „unnahbar“, sowie als „überaus autoritären Vorgesetzten“, wobei er stets betont, dass es sich um Einzelaussagen handele, bei denen „Vorsicht geboten ist“. Des weiteren wird Gujer im Text unterstellt, er habe aus Deutschland, wo er lange gelebt hat, „hierarchische Prinzipien in die Schweiz importiert“. Sicher Grund für den Portraitierten, sich zu ärgern – aber zu klagen? Und warum durfte Gujer überhaupt vorweg den Text lesen?
„Tagi“-Chefredakteur Arthur Rutishauser wollte sich auf Anfrage der taz nicht zur Sache äußern. Auf die Frage allerdings, ob es üblich sei, Portraitierten den Text über sie zum Gegenlesen zu geben – also nicht nur wörtliche Zitate, sondern den kompletten Artikel – sagt Rutishauser: „Artikel werden manchmal freiwillig vorgelegt. Das ist nicht verpönt.“ Erstaunlich, denkt man an journalistische Distanz und die stets prekäre Grenze zur PR.
Denkbar, dass es sich Autor und Chefredaktion nicht mit einem der wichtigsten Arbeitgeber im Schweizer Journalismus verscherzen wollten. So etwas kann schließlich Konsequenzen haben. Nur hat es wenig Sinn, überhaupt Portraits zu schreiben, wenn man hinterher nur die druckt, die der Portraitierte okay findet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Slowakischer Regierungschef bei Putin im Kreml
Spiegel-Kolumnist über Zukunft
„Langfristig ist doch alles super“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Krieg in der Ukraine
„Weihnachtsgrüße“ aus Moskau