30 Jahre Tschernobyl: Eine Katastrophe verändert die Welt
Am 26. April 1986 explodierte das sowjetische AKW Tschernobyl. Seitdem steht „Atom“ weltweit für „Gefahr“. Was damals geschah.
Es ist ausgerechnet ein Sicherheitstest, der zur Katastrophe führt: Am späten Abend des 25. April wollen die Techniker an Reaktor 4 des AKW Tschernobyl in der heutigen Ukraine testen, ob die Kühlpumpen für den Reaktor auch ohne externe Stromversorgung arbeiten. Damit soll der Notfall simuliert werden. Die Bedienungsmannschaft senkt um 23 Uhr Steuerstäbe in den Reaktor, um die Kettenreaktion herunterzufahren. Gleichzeitig legen sie die Not-Abschaltung lahm. Als die Leistung des Atomreaktors aber fast zum Erliegen kommt, fürchten die Techniker, der Reaktor könne instabil werden. Sie ziehen die Steuerstäbe wieder heraus.
Um 1.23 Uhr hat der Meiler nur noch 12 Prozent Leistung, der Test beginnt. Doch plötzlich nimmt die Leistung sprunghaft zu. Offenbar sind nur nur 6 Steuerstäbe im Reaktor. Die Sicherheitsbestimmungen verlangen mindestens 30. Das Kühlwasser verdampft, als die Reaktorleistung auf das Hundertfache des Normalen springt. Brennelemente schmelzen.
Um 1.24 Uhr zerreißen zwei Explosionen in den Brennelementen den Deckel des Reaktors und schleudern einen Teil des Kerns in die Umgebung. Luft dringt in das Innere und entzündet die Grafitstäbe in der Reaktorkammer.
Vor 30 Jahren veränderte die Atomkatastrophe von Tschernobyl alles. Der GAU hatte ungeahnte Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Die taz widmet sich in einer Sonderausgabe der „Generation Tschernobyl“. Mehr über die Reaktorkatastrophe sowie die Berichterstattung der taz damals und heute gibt es hier.
Im Reaktor befinden sich beim Unfall etwa 190 Tonnen hochradioaktives Material. Das Feuer brennt etwa zehn Tage und trägt wie in einem Kamin radioaktive Partikel hoch in die Luft. Explosion und Feuer setzen etwa 200-mal so viel Radioaktivität frei wie die Atombomben von Hiroshima und Nagasaki zusammen. Das brennende Grafit wird erst erstickt, als 5.000 Tonnen Bor, Blei, Sand und Lehm in den Reaktor gekippt werden – aus Helikoptern und von „Liquidatoren“: Bauarbeitern und Soldaten, die mit völlig unzureichender Ausbildung, Ausrüstung und Schutzanzügen teilweise mit bloßen Händen aufräumen.
Allein 1986/87 arbeiten schätzungsweise 240.000 dieser Nothelfer aus der ganzen Sowjetunion an der Unfallstelle, tragen strahlende Erde ab, schlachten verstrahlte Tiere oder ebnen verseuchte Dörfer ein. In Prypjat, 3 Kilometer vom Reaktor, steigen die Strahlenwerte auf das 250-Fache der Normaldosis. 31 Liquidatoren sterben kurz nach dem Unfall, meist an akuter Strahlenkrankheit.
Abwiegeln statt Warnen
Die ersten Warnungen kommen aus einem anderen AKW: dem schwedischen Forsmark, 1.100 km entfernt von Tschernobyl, wo Arbeiter am 28. April bei Kontrollen radioaktive Partikel an ihrer Kleidung entdecken. Die sowjetische Nachrichtenagentur TASS bestätigt den Unfall erst am Abend mit einer dürren Meldung. Die 50.000 Einwohner von Prypjat klagen nach dem Unfall über Kopfschmerzen, Übelkeit und metallischen Geschmack im Mund. Die Stadt wird erst 36 Stunden nach dem Unglück geräumt.
Am 1. Mai finden überall an der freien Luft Demonstrationen zum Tag der Arbeit statt. Die Behörden kontrollieren Milch und Trinkwasser in der verstrahlten Region erst später und verteilen an die Bevölkerung Jodtabletten zum Schutz der Schilddrüse erst vier Wochen nach dem SuperGAU. Schließlich werden die Menschen aus einer Zone von 30 Kilometern rund um den Reaktor evakuiert. 350.000 Menschen verlieren ihre Heimat. Etwa 5 Millionen leben heute noch in teilweise verstrahlten Regionen. 7 Prozent der Ukraine und 30 Prozent von Weißrusslands sind kontaminiert.
Tschernobyl und die Folgen
36 Stunden nach der Kernschmelze werden auch in Deutschland, der Schweiz, Schweden und der damaligen Tschechoslowakei erhöhte Strahlenwerte gemessen. Während in der Bundesrepublik die Medien bald ausführlich über das Thema berichten, wird es in den DDR-Zeitungen nur als kleine Meldung versteckt. Die Wolke über Deutschland belastete kurzfristig Milch und Blattspinat mit radioaktivem Jod, die Messungen werden aber nur im Westen öffentlich. Die Belastung durch den radioaktiven Fall-out ist so unterschiedlich, dass sie große Unruhe auslöst und auch die empfohlenen Grenzwerte etwa bei Milch zwischen 500 und 20 Becquerel (bq) pro Liter schwankten.
Heute liegt der Mittelwert bei der Jod-Belastung bei 0,1 bq. Weit größere Mengen an strahlendem Cäsium reichern sich im Boden an. Nach 30 Jahren sind bis heute davon etwa 44 Prozent der Radioaktivität zerfallen. Besonders betroffen waren und sind allerdings Waldböden im Bayerischen Wald und südlich der Donau. Auch weiterhin sind Pilze und Wildschweinfleisch aus diesen Gebieten belastet. Während die Behörden sehr zurückhaltend bei den medizinischen Folgen sind, verweisen die atomkritischen „Ärzte zur Verhinderung des Atomkriegs“ (IPPNW) auch auf deutsche Opfer: Die Statistiken zeigten mehr Totgeburten, Fehlbildungen bei Kindern und ein verändertes Verhältnis von Jungen und Mädchen bei Neugeborenen seit der Atomkatastrophe.
Krank und arm durch Tschernobyl
Schon drei bis vier Jahre nach dem Unfall steigen die Fälle von Schilddrüsenkrebs bei Kindern besonders in Weißrussland an. Auch andere Krebserkrankungen nehmen dort zu, ebenso verschlechtert sich der allgemeine Gesundheitszustand. Das Erbgut der Strahlenopfer wird teilweise geschädigt. Von den insgesamt 600.000–830.000 „Liquidatoren“, die über die Jahre in der Region eingesetzt werden, sind nach Schätzungen bis 2005 bereits bis zu 125.000 gestorben.
Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung der Folgen durch die sowjetischen Behörden gibt es nicht. Um die Zahl der toten, behinderten oder erkrankten „Tschernobyl-Opfer“ tobt seit Jahrzehnten eine Kontroverse zwischen offiziellen Stellen wie der Weltgesundheitsorganisation WHO und der Internationalen Atomenergiebehörde IAEO und unabhängigen Medizinern wie den IPPNW. Während die IAEO nur etwa 4.000 Tote als Folge von Tschernobyl annimmt, rechnen die IPPNW mit „einigen Zehntausend bis 850.000“. Eine aktuelle Studie von Greenpeace ergab auch nach 30 Jahren teilweise hohe Strahlenwerte für Milch (100 bq), getrocknete Beeren und Pilze (bis 2.500 bq), Getreide, Heu und Holz.
Seit der Unabhängigkeit hat Weißrussland etwa 19 Milliarden Dollar für die Folgen von Tschernobyl gezahlt, die Ukraine etwa 10 Milliarden. Weißrussland musste zeitweilig über 20 Prozent seines Staatshaushalts für die Bekämpfung der Krise aufbringen. Die Ukraine wendet noch heute zwischen 7 und 13 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung auf, um die Folgen von Tschernobyl zu lindern.
In der BRD richtet die CDU/CSU-FDP-Regierung fünf Wochen nach dem Unfall das Bundesumweltministerium ein. Die SPD beschließt im August den Atomausstieg innerhalb von 10 Jahren. Weltweiter jahrelanger Stopp bei Neubauten von Atomkraftwerken. Österreich nimmt sein fertiges AKW nicht in Betrieb. Italien steigt nach einem Referendum aus der Atomkraft aus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!