Kolumne Die eine Frage: Mit Verlaub, Sie sind kein Arschloch
Was den Wahlerfolg der Kretschmann-Grünen ausmacht: Sie sind Post-Realo-Fundis. Und sie sprechen anders als Classic-Grüne.
A ls wir klein waren, war das Allermeiste sonnenklar. Wenn ein Grüner zum Bundestagspräsidenten „mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch“ krächzte, dann war das die angemessene Sprache der Dissidenz und der Ausdruck einer konfrontativen Haltung gegenüber dem Establishment. Damit brach etwas auf.
Over.
Selbst falls man demnächst ein starkes Gefühl verspüren sollte, den Satz bei President Trump wieder anzuwenden: Was soll das bringen, außer sich kurz Luft verschafft zu haben?
Nun werden die einen weiter darauf beharren, dass man kaputt machen müsse, was uns kaputt macht. Ich gehöre zu denen, die inzwischen überzeugt sind, dass man nicht das kaputt machen darf, was wir in den letzten 50 Jahren an bewahrenswerten Errungenschaften geschafft oder bekommen haben. Dass deshalb nicht das kaputtgehen darf, was uns in der Mitte zusammenhält. Das ist eine radikal veränderte Aufgabenstellung.
Nach dem Auffliegen des NSU hieß es: nie wieder. Im sächsischen Freital scheint es dennoch zu passieren – eine rechte Terrorgruppe entsteht. Wie es so weit kommen konnte, lesen Sie in der Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 9./10. April. Außerdem: Warum der schwule iranische Schriftsteller Payam Feili in Israel Asyl beantragt. Und: Bierforscher Gunther Hirschfelder erklärt, warum wir noch immer am 500 Jahre alten Reinheitsgebot hängen. Am Kiosk, eKisok oder im praktischen Wochenendabo.
Zu viel von dem, was nach Ministerpräsident Kretschmanns historischem Wahlsieg gesagt wurde, geht von einem überholten Denken aus – Realo oder Fundi. Kretschmann und seine Baden-Württemberger sind eben nicht auf einem der beiden alten Grünen Wege unterwegs. Das sind keine „Realos“, die die „Fundis“ in Schach halten.
Die Kretschmann-Grünen sind Post-Realo-Fundis. Sie sind Orientierungspartei der Gesellschaft. 30,3 Prozent kriegt man nur, wenn die aristotelische Katharsis hinter einem liegt. Wie auch bei anderen erfolgreich regierenden Landesverbänden (etwa Hessen und Schleswig-Holstein) wird Staat, Gesellschaft, Wirtschaft und „wir“ zusammengedacht.
Im Bund indes muss man den Sprung hinter die Lager noch machen. Dieser Sprung besteht im Kern darin, Kretschmanns Definition von Grün positiv nachzuvollziehen. Er ist nicht der Avantgardist, der die Mitte vom Rand aus piekst. Er ist der „Pater Patriae“, der Vater des Vaterlandes, der mit seinem progressiven Errungenschaftskonservatismus und dem Alleinstellungsmerkmal der sozialökologischen Transformation eine neue Mehrheit in der Mitte gebildet hat. Eine völlig unterschätzte Voraussetzung dieses Erfolg ist die Art des Sprechens.
Heute sammelt sich das Anti-Establishment in unserer EU bei Rechts- oder bei Linkspopulisten und in Deutschland bei der AfD. Da sind Leute dabei, deren Wut mit einer kulturellen Verwahrlosung einhergeht und die sich entsprechend artikulieren. In so einer Lage ist das öffentliche Krachwumms-Sprechen der frühen grünen Jahre keine aufrechte Haltung, sondern genauso kontraproduktiv wie der spaltende Moralstinkefinger.
Nicht die Manieren verlieren
Was es brauche und was Kretschmann habe, sagt der Soziologe Heinz Bude, sei „reparatives“ Sprechen. Er spaltet nicht, er fügt Teile der auseinanderstrebenden Gesellschaft neu zusammen. Er verkörpere die „Idee kollektiver Handlungsfähigkeit“ im Spätkapitalismus. Das ist sicher nicht im Sinne Sahra Wagenknechts, aber genau darum geht es. Die dialogische Hinwendung gilt selbstverständlich nicht für notorische Rassisten, aber sie reicht bis zu gekränkten Kleinbürgern, die sich jetzt gegen Demokratie, EU und Gesellschaft wenden und dabei asozial und antikapitalistisch sind.
Man muss mit allen reden und mit vielen möglichst gute Kompromisse machen können. Das gilt speziell für etwaige Grüne in einer künftigen Bundesregierung. Ein grüner Außenminister muss mit Saudi-Arabien, Assad oder dem Teufel so sprechen, dass etwas Positives herauskommen kann. Er sollte nicht wie Anton Hofreiter bereits die Manieren verlieren, wenn er es mit dem grünen Oberbürgermeister von Tübingen zu tun hat.
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