Zwischenfall am „AKW Leningrad“: Heißer Dampf in Sosnowy Bor
Nachdem ein Rohr geplatzt war, musste ein Block des Kraftwerks runtergefahren werden. Es ist unklar, wie radioaktiv der Dampf ist.
Wenige Stunden später wandte sich der Direktor des Kraftwerkes, Wladimir Pereguda, an die Bevölkerung. Es gebe, so der Atommanager, keinen Grund zur Beunruhigung. Die radioaktive Strahlung liege im zulässigen Normbereich, es gebe keine Veranlassung, Personal des Kraftwerkes und die Bevölkerung der Stadt Sosnowy Bor zu evakuieren. Trotzdem sah sich die Kraftwerksleitung noch am Freitag veranlasst, alle Mitarbeiter des Kraftwerksblockes, die nicht unmittelbar in die Produktion eingebunden sind, vorzeitig nach Hause zu schicken.
Das Gefährdungspotential des entwichenen Dampfes sei nur geringfügig, schob die Kraftwerksleitung in einer weiteren Erklärung nach. Da der Wasserdampf nicht radioaktiv gewesen sei, liege die Strahlenbelastung auf dem Kraftwerksgelände und außerhalb unterhalb des Grenzwertes.
Oleg Bodrow, Sprecher der in Sosnowy Bor aktiven Umweltgruppe „Grüne Welt“ widerspricht. „Ich habe heute selbst die Strahlenbelastung in Sosnovij Bor gemessen. In der Stadt ist sie tatsächlich unterhalb des zulässigen Grenzwertes. Doch der Wind hat die Dampfwolke in Richtung des Finnischen Meerbusen getrieben. Richtig wäre es, dort zu messen.“
Nur ein Wasserkreislauf im Kraftwerk
Auch die Aussage der Kraftwerksbetreiber, der entwichene Wasserdampf sei nicht radioaktiv gewesen, weist der Ingenieur und Physiker, der selbst Jahre in der Atomwirtschaft gearbeitet hatte, zurück. Der Reaktor von Sosnowy Bor habe nur einen Wasserkreislauf. Das Wasser sei mit Radioaktivität in Kontakt gekommen, bevor es sich in Dampf verwandelt habe. „Deswegen war der entwichene Wasserdampf radioaktiv“, so Oleg Bodrow telefonisch gegenüber der taz.
Viele befürchten, dass die Sache vielleicht doch schlimmer ist als die offiziellen Verlautbarungen nahelegen. Die Videobotschaft des Direktors des AKW Leningrad, Wladimir Pereguda, sei wohl mit sehr heißer Nadel gestrickt worden. „Und er war offensichtlich nervös“ beschreibt die in Moskau erscheinende Komsomolskaja Prawda den Online-Auftritt des Atommanagers.
Das St. Petersburger Internet-Portal fontanka.ru vergleicht die jüngste Panik in den sozialen Netzen mit einer ähnlichen Situation 2008. „Die Apokalypse ist erst mal verschoben“, bemerkt ein anonymer Internetnutzer sarkastisch. „Wir sollen jetzt zwei Tage lang nicht aus dem Haus gehen und die Fenster nicht öffnen. Aber ansonsten gibt es keinen Grund zur Beunruhigung“, schreibt ein anderer Nutzer. Wenn wirklich was passiert sei, werde man das wohl am ehesten aus Finnland erfahren.
Das Kernkraftwerk Leningrad besteht aus vier Reaktoren vom Typ RBMK mit einer Leistung von je 1.000 MW. Der zweite Kraftwerksblock von Sosnowy Bor läuft seit 40 Jahren. Eigentlich hätte seine Laufzeit vor zehn Jahren geendet. Doch dann hatte man ihn nachgerüstet und eine Laufzeitverlängerung von weiteren 15 Jahren beschlossen. „Und das alles ohne die vom Gesetz geforderten öffentlichen Anhörungen und Umweltgutachten“, sagt Oleg Bodrow.
Alle vier Reaktoren von Sosnovij Bor sind Reaktoren vom Typ RBMK. Ein Merkmal des RBMK-Reaktors ist, dass seine Kettenreaktionen auch dann fortgesetzt werden, wenn Kühlwasser verloren geht. An den anderen Atomkraftwerken kommt die Kettenreaktion hingegen beim Verlust von Kühlwasser automatisch zum Erliegen. Es war ein RBMK-Reaktor, der am 26. April 1986 in Tschernobyl die bisher größte Katastrophe der Atomenergie ausgelöst hatte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren