„Angekommen – Flüchtlinge erzählen“: Verlorene Kinder gibt es auch hier
Aus Syrien in Berlin angekommen begann ich, der ich Deutsch gerade erst lernte, den negativen Beigeschmack des Wortes „Gutmensch“ zu verstehen.
Seit April sind meine Familie und ich in Sicherheit in Deutschland. Die Entscheidung, Damaskus zu verlassen, fiel mir nicht leicht. Ich betrachtete es als meine Aufgabe, als Berichterstatter Verbrechen gegen Frauen und Kinder im Krieg zu beobachten. Eine Freundin sagte, das ginge doch auch von Deutschland aus – schließlich säßen die Menschenrechtler, die den syrischen Krieg für das Syrian Observatory of Human Rights beobachten, auch in London und nicht ohne Strom in den Trümmern von Aleppo.
Die Freundin ist Deutsche und arbeitete wie ich seit 2004 in Syrien zu Frauenrechten, Missbrauch und Prostitution, auch von Kindern. Sie organisierte mir die Hilfe von Reporter ohne Grenzen, die mir die Ausreise aus dem Kriegsgebiet in ein neues Leben ermöglichte.
Dass viele Deutsche sich ehrenamtlich engagieren, wusste ich, und ich war sehr froh, als meine Freundin mich zu einer Sitzung ihrer NGO mitnahm, die traumatisierten syrischen Kindern im Libanon helfen will. Wir saßen in einem großen Büroraum nahe der Potsdamer Straße in Berlin. Erst später würde ich erfahren, dass direkt nebenan der bekannteste Strich Berlins lag, was mich schockierte.
Eine deutsche Delegation der NGO war gerade von einer Reise in den Libanon zurück und berichtete über Treffen mit glücklichen Kindern, mit religiösen Führern und über ihre Pläne, bald noch ein konfessionsübergreifendes Friedenszentrum aufzubauen. Mein Herz wurde warm. Diese guten Deutschen opferten ihre Freizeit und ihr Geld, um in der Ferne etwas für Kinder aufbauen – Chapeau!
Die Person: Der syrische Journalist Yahya Alaous ist 42 Jahre alt und Vater von zwei Töchtern im Alter von fünf und neun Jahren.
Das Werk: In Syrien arbeitete er als politischer Korrespondent bei einer großen Tageszeitung. Er äußerte sich immer kritisch gegenüber dem Assad-Regime und kämpfte lange Zeit gegen Korruption und für Demokratie und Frauenrechte. Derzeit nimmt er an einem Integrationskurs in Deutschland teil und absolviert ein Praktikum beim Handelsblatt.
Syrien hat eine große Szene für Kinderprostitution. Seit 2003 flüchteten irakische Familien zu uns, und als sie kein Geld mehr hatten, um die Mieten für die kalten Kellerräume oder die Bauruinen in Damaskus zu bezahlen, und auch keine Chance auf dem Arbeitsmarkt, begannen sie, ihre Kinder zu verkaufen. Saudische und kuwaitische Sextouristen kamen dafür Hunderte Kilometer angereist.
Teenager-Sex am Kudamm
Nach dem NGO-Treffen wollte meine Freundin, die auch Journalistin ist, mit mir den Strich ansehen. Ich lehnte natürlich ab. Sie appellierte an den Journalisten in mir und zeigte mir Dutzende junger Mädchen, Bulgarinnen, Osteuropäerinnen, blondgefärbte Mädchen verschiedenster Herkunft, die alt und hart wirkten und ihre Seelen irgendwo zwischen Sexarbeit und Drogenkonsum verloren hatten.
![](https://taz.de/picture/696797/14/wochenendkasten.png)
In einer 16-teiligen Serie haben wir Flüchtlinge gebeten, uns das zu erzählen, was ihnen jetzt gerade wichtig ist. Wie erleben sie Deutschland, worauf hoffen sie, wie sieht ihr Alltag aus? In ihren Ländern waren sie Journalisten, Autoren, Künstler. Sie mussten Syrien verlassen, Russland, Aserbaidschan oder Libyen. Jetzt sind sie in Deutschland. Was sie zu sagen haben, lesen Sie im Oktober täglich auf taz.de. Alle Geschichten gebündelt gibt es in der taz.am wochenende vom 2./3./4. Oktober, erhältlich am eKiosk.
Als wir eine sichere, versteckte Beobachterposition gefunden hatten, sahen wir, wie junge arabische Männer zu den Prostituierten kamen. Die Mädchen sagten immer „30“, die Männer wollten sie lautstark auf „15!“ runterhandeln. Was, wenn die Männer handgreiflich würden? „Keine Sorge“, sagte meine Freundin. „Siehst du das Café dort und den Spätkauf hier? Da sitzen Männer, die auf die Frauen aufpassen und ihnen natürlich auch Geld dafür abnehmen.“
Was denn die Polizei dagegen machen würde, wollte ich von ihr wissen, was, wenn die Mädchen krank sein oder werden würden, was mit ihren Eltern und ihrer Zukunft sei und werden würde, wenn hier, in der Mitte von Deutschlands Hauptstadt, rund um die Uhr billiger Sex so leicht zu haben sei? Prostitution sei hier legal, erklärte mir meine Freundin, habe aber trotzdem solche Auswüchse; das Milieu, ohnehin durch Drogen- und Menschenhandel geprägt, sei so vielleicht ein wenig mehr zu kontrollieren.
Während wir auf der Kurfürstenstraße standen und den regen Handel mit Teenager-Sex beobachteten, saßen die guten Deutschen von der NGO, die sich auf ihrer Reise in den Libanon so sehr für die Rechte syrischer Kinder einzusetzen versuchten – ohne Arabisch zu sprechen, ohne Landeskenntnis zu haben und ohne die weltpolitischen Gesamtzusammenhänge zu verstehen –, saßen sie also in einer schicken Bar ums Eck und entwickelten neue Pläne, wie die internationalen, unterbezahlten Freiwilligen ihr Friedenszentrum in einem entlegenen Bergdorf noch schöner machen könnten.
Auf die Idee, Kondome zu verteilen oder Flugblätter, wie die Straßenmädchen sich von ihrem harten Alltag befreien könnten, kamen sie nicht. Damit könnten sie verlorenen Kindern helfen, die nur 30 Meter von ihrem Arbeitsplatz entfernt sind. Langsam begann auch ich, der ich Deutsch gerade erst lernte, den negativen Beigeschmack des Wortes Gutmensch zu verstehen.
Aus dem Arabischen übersetzt von Jasna Zajcek
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