Saudi-arabisches Vormundschaftsystem: Lebenslange Knechtschaft für Frauen
Adal verdient ihr eigenes Geld, hat ein eigenes Auto und ein Dienstmädchen. Doch an ihr Erbe kommt sie nicht ran. Das verhindert ihr Stiefbruder - er ist ihr Vormund.
DSCHIDDA taz | Sie ist eine Kämpferin, sagt sie über sich selbst. Vielleicht ist das der Schlüssel zu ihrer Geschichte. Eine Kämpferin: Sie lässt sich nichts gefallen, soll das heißen. Von niemandem. Auch nicht von Männern. Nennen wir sie Adal, denn ihren richtigen Namen will sie nicht nennen. Nicht mal ihren Geburtsort, nur dass sie aus dem Süden Saudi-Arabiens kommt und Mitte vierzig ist.
Dass Frauen außerhalb des Hauses ihren Namen nicht nennen, ist nicht ungewöhnlich in Saudi-Arabien. Viele nennen sich "Um X", "Mutter von X". Und einen Familienstreit an die Öffentlichkeit zu bringen, gilt hier als schlimme Schande.
Das ist jedoch genau das, was Adal gerade tut. Dass sie also überhaupt mit einem Journalisten spricht, ist nur so zu erklären, dass sie "nicht mehr kann", wie sie sagt. Und so gibt ihre Geschichte einen seltenen Einblick in das Leben einer normalen saudischen Frau, weit weg vom im Umgang mit medienversierten Aktivistinnen. Und ihre Geschichte zeigt auch, dass sich immer mehr saudische Frauen gegen die Vormundschaft eines Mannes wehren.
Scheidungs steigt stetig
"Weil wir eine offenere Gesellschaft werden, sehen wir solche Fälle zunehmen", sagt Hussein al-Scharif, der Chef der Gesellschaft für Menschenrechte (NSHR) in Dschidda. Und die Zahlen bestätigen das. Laut der Tageszeitung Arab News steigt die Scheidungsrate in Saudi-Arabien stetig an.
Jede Frau in Saudi-Arabien hat einen Vormund (Wakheel). Für Mädchen ist es der Vater; heiraten sie, wird es der Ehemann. Stirbt der Vater oder werden die Frauen geschieden, geht die Vormundschaft auf den ältesten Bruder über. Gibt es keine männlichen Verwandten, geht sie gar auf den Gouverneur über, der in Saudi-Arabien jeweils ein hochrangiger Prinz ist.
Frauen brauchen die Zustimmung ihres Vormundes bei vielen Entscheidungen: wenn sie zur Schule gehen oder studieren wollen, wenn sie sich an eine Regierungsstelle wenden oder ein Geschäft eröffnen wollen, wenn sie einen Reisepass brauchen oder ins Ausland reisen wollen, für bestimmte medizinische Eingriffe und wenn sie heiraten wollen.
Behörden, Schulen, der Zoll und andere Institutionen verlangen entweder die schriftliche Bestätigung des Vormundes oder seine Anwesenheit.
Für andere Tätigkeiten, wie einen Personalausweis zu beantragen, reicht dagegen oft die Anwesenheit eines engen männlichen Blutsverwandten (Mahram.) Erst im Jahr 2001 hat Saudi-Arabien Ausweisdokumente für Frauen eingeführt.
Davor wurden sie mit ihrem Namen, aber ohne Lichtbild auf den Ausweisen ihres Vormundes geführt, was ihnen den "rechtlichen Status von Schafen" gab, sagt der Menschenrechtsaktivist Ibrahim al-Mugaitib.
Wegen des Festhaltens am Vormundschaftssystem verstößt Saudi-Arabien gegen die UNO-Frauenrechtskonvention (Cedaw), die es 2001 ratifiziert hat.
Fast 62 Prozent der Ehen werden geschieden, und nach einer Schätzung wird es im Königreich 2015 vier Millionen unverheiratete Frauen über 35 Jahren geben.
Sollte noch irgendein Zweifel bestanden haben, wo wir uns hier befinden, wären sie schon am Eingang unseres Treffpunktes verschwunden. Das NSHR-Haus in Dschidda ist eine klassizistische Villa direkt an der Stadtautobahn. Sie hat zwei separate Eingänge, mit Schildern für "Frauen" und "Männer" darüber. Sie führen in zwei separate Haushälften, in denen die beiden Geschlechter getrennt arbeiten.
Zusammen kommen sie nur in einem breiten Konferenzraum, der sich über beide Haushälften erstreckt. Selbst das ist jedoch ein Tribut an die Moderne. In vielen Institutionen in Saudi-Arabien, in denen Frauen arbeiten, kommunizieren sie mit Männern per Videokonferenz oder Telefon.
In diesem die Trennwände überspannenden Konferenzraum sitzt Adal. Sie trägt die Abaya, jene pechschwarze, weite Robe, die alle Frauen hier tragen; außerdem den schwarzen Gesichtsschleier bis über die Nase gezogen und über dem Kopf ein trapezförmiges Tuch in derselben Farbe, das sie an die Silhouette Darth Vaders gemahnen lässt, des Erzschurken aus der Star-Wars-Trilogie. Aus dem engen Schlitz, der frei bleibt, lugt sie mit dunklen, lebendigen Augen.
Wenn sie sich zurücklehnt, teilt sie den Raum vor sich mit flinken Bewegungen ihrer Hände, wie das Frauen im Mittleren Osten so tun. Dann sieht man, dass sie auf den Nägeln der linken Hand Nagelack trägt - die rechte Hand ist die gute Hand im Islam. Dort trägt sie auch einen großen Silberring und drückt nervös auf einem Papiertaschentuch-Ball herum.
Wenn sie noch etwas nervöser ist, hat sie auch noch eine Gebetskette vor sich liegen. Die nimmt sie dann in die rechte Hand und lässt sie, jede Kugel einzeln, schnell durch die Finger gleiten.
Mit dreizehn verheiratet
Das ist Adals Geschichte: Von ihrem Vater wurde sie mit 13 Jahren in die Ehe mit einem Mann aus dem Nachbardorf gegeben.
Hat sie ihn vorher einmal gesehen? "Nein, das ist bei uns nicht Tradition", sagt sie und stellt gleich klar, der Grund für die frühe Hochzeit sei allein die Gier ihres Vaters gewesen. "Er wollte den Brautpreis für mich."
Später wird sie sagen, bei fast allen Familienstreitereien gehe es im Grunde ums Geld, und die NSHR-Mitarbeiterin, die im Raum dabei sitzt, wird nicken.
Von Anfang an jedoch, sagt Adal, habe es Probleme in ihrer Ehe gegeben, weil ihr Mann ihr Vorschriften machen wollte. Aber da sie, wie gesagt, eine Kämpferin ist, beendete sie die Schule und studierte sogar. Heute ist sie Lehrerin in einer staatlichen Mädchenschule.
Mit ihrem Mann zusammen zog sie nach Dschidda, ans Rote Meer. Erst arbeitete er dort in einer Bank, heute ist er Geschäftsmann. Zusammen hatten sie einen Sohn, dann eine Tochter. Als ihre Tochter drei Jahre alt war, ließ Adal sich jedoch scheiden. Das war vor 20 Jahren.
Das Haus wird überwacht
Die Probleme hörten damit jedoch nicht auf, denn ihr geschiedener Mann ist der Vormund ihrer Tochter und muss deshalb allen wichtigen Entscheidungen zustimmen, die sie betreffen.
Eigentlich sollte die Tochter heute mit ihr zu dem Interview kommen, aber sie hatte Angst und blieb deshalb zu Hause. Adal sagt, ihr geschiedener Mann lasse das Haus überwachen und wäre zur Polizei gegangen, hätte er gesehen, dass sie mit ihrer Tochter zur NSHR geht. "Ich kann nichts machen", sagt sie und lässt die Gebetskette rotieren. "Wenn ich zur Polizei gehe, sagen die mir: "Wir können Ihnen nicht helfen. Kommen Sie mit Ihrem Vormund wieder."
Kurz nach der Scheidung hat ihr Exmann die einjährige Tochter zu sich genommen. Adal musste vor Gericht gehen, um das Sorgerecht für sie zu erstreiten. Nun will sie, dass ihre Tochter im Ausland studiert. Sie ist gerade im zweiten Semester ihres Medizinstudiums. Doch ihr geschiedener Mann will sie nicht gehen lassen.
Der Vormund entscheidet
Adal ist sicher, dass er sie verheiraten möchte. Er ist der Vormund, er kann das entscheiden. In Saudi-Arabien geht gerade ein Verfahren durch die Instanzen, in dem eine Ärztin klagt, den Mann ihrer Wahl, nicht der ihres Vaters, heiraten zu dürfen. Aber nach derzeitiger Rechtslage entscheidet noch der Vormund.
"Mein Exmann hat eine zweite Frau geheiratet. Deren Tochter hat er mit 15 Jahren verheiratet", sagt Adal, und wieder klackert die Gebetskette. Adal selbst würde gerne nach Syrien reisen, um sich die Zähne richten zu lassen. Dort seien die Ärzte billiger, sagt sie. Aber sie bekommt die Zustimmung ihres Vormundes dafür nicht.
Und es kommt noch schlimmer: Ihr Vormund ist nämlich ihr älterer Stiefbruder, mit dem sie sich seit Jahren vor Gericht um die Erbschaft ihres Vaters streitet. Die zwei Häuser stehen in ihrem Heimatdorf im Süden des Landes.
Angst vorm Stiefbruder
"Er nimmt meine Anrufe nicht an. Er hilft mir gar nicht", sagt sie über ihren Stiefbruder. "Wenn wir uns treffen, beschimpft er mich. Ich stelle immer sicher, dass ich nicht allein mit ihm im Raum bin, damit mir nichts zustoßen kann."
Ein Gericht hat Adal ihren Anteil an den Häusern zugesprochen, aber bisher hat sie noch nicht darauf zugreifen können. Den Richter hat sie gebeten, die Vormundschaft ihres Bruders auf ihren Sohn zu übertragen. Der studiert allerdings gerade in Indien.
Der Richter hat das abgelehnt. Er wolle erst den Erbschaftsstreit abarbeiten, habe er gesagt, sagt Adal, dann werde er über die Vormundschaft entscheiden.
Eigenes Geld
Die Wurzel des ganzen Übels für Frauen in Saudi-Arabien, sagt Adal, liegt darin, dass Männer in dem Land nicht damit umgehen könnten, dass die Frauen ihr eigenes Geld verdienen. Sie sagt, seit dem Tod ihres Vaters zahle sie die Zinsen für den Kredit des Hauses, in dem ihr Stiefbruder nun wohnt.
Und später wird sie mit einem breiten Lachen erzählen, das man selbst durch den Schleier sehen kann, dass sie ein eigenes Auto hat und einen Fahrer und ein Dienstmädchen aus Indonesien - die saudischen Statussymbole, ohne die hier keine Familie auskommt.
Gefangen im System
Deshalb ärgert sie sich so, dass sie für so viele Sachen die Zustimmung eines Mannes braucht. "Das Vormundschaftssystem macht mir das Leben zum Spießrutenlauf", sagt sie. "Für jemanden wie mich, die geschieden ist, die mit ihrem Stiefbruder Streit hat und deren Sohn nicht im Land ist: Was soll ich machen?"
Klack, klack, klack.
Das System will sie gar nicht ändern. "Ich will nur eine Lösung für mein Problem. Das ist alles." Und wieder heiraten, was viele Frauen in Saudi-Arabien machen, um einen neuen Mann in ihr Leben und damit einen neuen Vormund zu bekommen, steht für Adal nicht zur Diskussion.
"Nach meiner ersten Ehe ist mir dieser Gedanke nicht ein einziges Mal gekommen", sagt sie, ohne das Ende der Frage abzuwarten. "Ich hatte viel zu viel Angst, dass nur jemand anderes kommt, der über mein Leben bestimmt." Die Gebetskette liegt dabei unberührt vor ihr auf dem Tisch.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin