Gerechtigkeit und Studiengebühren: Karl Marx hatte recht
Nun überlegt auch Bayern, die Studiengebühren abzuschaffen. Das wäre der Abschied von einem emanzipatorischen Projekt.
Schade eigentlich. Jetzt beginnt auch Bayern, sich aus den Studiengebühren wieder zurückzuziehen. Ministerpräsident Horst Seehofer hat eine „offene Diskussion“ über das Bezahlstudium angekündigt.
Diese Aktion ist nicht nur Beweis für den Populismus eines Wahlkämpfers. Sie markiert zugleich den Abschied von einem, ja, emanzipatorischen Projekt: Studiengebühren sind nämlich nicht, wie gern behauptet, ein Mittel der Ausschließung, sondern im Gegenteil: Sie verstärken demokratische Beteiligung – und sie sind zugleich ein Moment des sozialen Ausgleichs. Jedenfalls können sie es sein.
Wie das? Das fragt sich LeserIn zu Recht. Denn den Eintritt ins Studium mit einem Preis zu versehen verengt den Zugang zur Uni. Weil es sich nicht mehr jeder leisten kann. Das stimmt – aber eben nur auf den ersten, flüchtigen Blick.
Das Vorspiel: Im Jahr 2002 wurde das Hochschulrahmengesetz novelliert und schloss allgemeine Studiengebühren an Hochschulen aus. Gegen dieses Gesetz klagten sieben damals unionsgeführte Länder von Baden-Württemberg bis Sachsen. Grund: Sie sahen ihre Hoheit in Bildungsfragen vom Bund beschnitten. Das Bundesverfassungsgericht gab ihnen im Januar 2005 recht. Daraufhin führten einige Länder Gebühren ein.
Hier gab es sie früher: in Hessen bis 2008, im Saarland bis 2010, in Nordrhein-Westfalen bis 2011, in Baden-Württemberg und Hamburg bis 2012.
Hier gibt es sie immer noch: in Bayern und Niedersachsen.
Hier hat es sie nie gegeben: Berlin, Brandenburg, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Thüringen.
Die empirischen Daten offenbaren ein anderes Bild: Das Nadelöhr für Arbeiterkinder ist nicht etwa die Campus-Maut, sondern es ist die scharfe Auslese, die von der Schulstruktur ausgeht. Es gibt Studien jeder Methodik und unverdächtiger Herkunft, die das zeigen.
Die Achillesferse des Bildungssystems
Der sogenannte Bildungstrichter (aus der Sozialerhebung der Studentenwerke) beweist seit vielen Jahren, dass nur 11 bis 14 Prozent der Arbeiterkinder auf Hochschulen kommen, aber satte 83 Prozent der Beamtenkinder. Ursache dafür ist, dass es Eltern der sozialen Herkunftsgruppe „hoch“ gelingt, 85 von 100 Kindern in die gymnasiale Oberstufe zu hieven – und von denen wiederum 95 Prozent auf die Hochschule. Den Eltern der sozialen Herkunftsgruppe „niedrig“ (so heißen Arbeiterfamilien soziologisch heute) bringen nur 36 von 100 Kindern auf die höhere Schule; und von ihnen nur 31 Prozent auf die Uni.
Die Übergangszahlen schwanken geringfügig, aber der Gegensatz zwischen den Studienerfolgen der Ober- und Unterschicht bleibt stabil. Der Bildungstrichter bestätigt damit das Ergebnis jeder einzelnen Pisa-Studie: Schulische Leistungen und Fortkommen hängen in Deutschland von der sozialen Herkunft ab. Es ist die Achillesferse des deutschen Bildungssystems. Oder genauer: Es ist die Schule, die vom Studium abhält und nicht etwa die Uni-Gebühr.
Was passiert nun, wenn Studiengebühren hinzukommen? Auch das weiß man, dank einer Studie des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin (die übrigens – auch von dieser Zeitung – konsequent kleingeredet wurde). Danach haben Gebühren keine abschreckende Wirkung.
„Mit keiner der durchgeführten Analysen kann ein negativer Effekt von Studiengebühren auf die Studierneigung identifiziert werden“, schrieben die Forscher 2011. Es gibt viele weitere Studien, etwa der OECD, welche die Vorteile eindrucksvoll belegen, die Akademiker aus ihrem Studium ziehen.
„Erziehungskosten aus dem Steuersäckel“
Das schlagendste Argument stammt aber vielleicht von Karl Marx. Er notierte 1875 in seiner Kritik am Gothaer Programm der SPD: „Wenn in einigen Staaten höhere Unterrichtsanstalten unentgeltlich sind, so heißt das faktisch nur, den höheren Klassen ihre Erziehungskosten aus dem allgemeinen Steuersäckel zu bestreiten.“
All die Studien zu zitieren, die das Märchen „Studiengebühren sind die Ursache sozialer Selektion“ fortschreiben, ermüdet freilich. Man muss, um besser zu verstehen, was es mit Gebühren und Gesellschaft auf sich hat, über zwei Dinge sprechen. Erstens: Wieso ignoriert die akademische Oberschicht diese Zahlen? Und zweitens: Wie könnte denn ein intelligentes Studiengebührenmodell aussehen?
Erstens: Es gibt eine Vielzahl von grandiosen Scheinargumenten gegen Studiengebühren. Der wahre Grund aber, warum Akademiker das Bezahlstudium bekämpfen, ist sehr einfach: Jeder ist sich selbst der Nächste. Die Studierten verteidigen ihre Privilegien. Die Kinder der – zugespitzt formuliert – Reichen und Gebildeten bekommen das Studium geschenkt. Das soll so bleiben.
Das Mantra der Allgemeinen Studentenausschüsse, das in etwa „Studium für alle“ lautet, ist nichts anderes als Propagandaschwindel. Studentenvertreter betätigen sich als Lobbyisten ihrer Klasseninteressen – oder als nützliche Idioten der gehobenen Beamten- und Bürgerschichten. Asta-Fritzen kämpfen im Che-Guevara-T-Shirt für ein vermeintlich kostenloses Studium. In Wahrheit aber sind sie die Vorhut reicher Ärzte-, Anwälte- und Redakteurskinder, die Papis Kohle weiter in Skiurlaube statt in die Campus-Maut stecken wollen. So weit, so schlecht.
Geld gegen Mitbestimmung
Spannender ist die zweite Frage: Wie kann ein intelligentes Gebührenmodell aussehen? Die taz hat 2004 ein solches Modell vorgelegt, und es hätte emanzipatorische Kraft. Warum? Die demokratisch-soziale Lage an den Hochschulen sieht so aus, dass die Bürgerkinder ihr Studium genießen – und sich um Wahlen in die Selbstverwaltungsorgane nicht weiter scheren. Teilweise gehen nur 9 Prozent zur Wahl, maximal reicht die Wahlbeteiligung bis knapp über 20 Prozent.
Die Idee wäre nun diese: Wenn sich die StudentInnen an der Finanzierung der Hochschulen beteiligen, sollen sie das Geld auch selbst verwalten (dürfen). Dann würde die Wahlbeteiligung wahrscheinlich dramatisch steigen – parallel zu dem Interesse daran, ihre Studiengebühren sinnvoll einzusetzen.
Immerhin handelt es sich dabei, wie die Abschaffung der Gebühren in NRW und Baden-Württemberg zeigte, um dreistellige Millionenbeträge. Eine Steigerung der Wahlbeteiligung an den Universitäten ist übrigens wichtig. In der CDU wird bereits laut darüber nachgedacht, die studentische Selbstverwaltung an den Hochschulen komplett abzuschaffen – weil sich so wenige dafür interessieren.
Über all das würde es sich lohnen nachzudenken. Aber die politischen Mehrheiten sind anders. Rot-grüne Landesregierungen haben die Campus-Maut nicht etwa zu einem Modell demokratischer Mitbestimmung erweitert, sondern abgeschafft. Eine solche Politik wirkt sich übrigens sofort auf eine progressive Bildungsreform aus – es macht sie unmöglich.
Denn wer, wie etwa NRW, 250 Millionen Euro ausgibt, um privilegierten StudentInnen Gebühren zu erstatten, der hat eben kein Geld mehr für benachteiligte Arbeiterkinder in Ruhrgebietsschulen. Mit anderen Worten: Das emanzipatorische Projekt „demokratische Studiengebühr“ ist passé, von links bis konservativ.
Wie lange es sich freilich Friseurinnen, Hilfsarbeiter und andere Nichtstudierte gefallen lassen, dass sie mit ihren Steuern Universitäten bezahlen, die ihre Kinder nicht besuchen können, steht auf einem anderen Blatt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste