Anonyme Änderungen in der Wikipedia: Banale Bundesstreber
Automatisierte Twitter-Konten überwachen, wie Industrie und Regierungen Wikipedia-Einträge verändern. Bisher haben sie aber wenig Skandalöses gefunden.
BERLIN taz | Der Propaganda-Krieg um die Ukraine hat – wie fast jede öffentliche Kontroverse – auch die Wikipedia erreicht. Wie der britische Telegraph berichtet, hat jemand aus dem Netz des russischen staatlichen Rundfunks den Wikipedia-Artikel über den abgestürzten Flug MH17 mit der Behauptung ergänzt, dass das Flugzeug von ukrainischen Soldaten abgeschossen wurde. Auf der anderen Seite wurde eine Reporterin des russischen Staatssenders RT America aus dem Netz des amerikanischen Repräsentantenhauses als „Propagandistin“ beschimpft.
Solche Edit-Wars sind seit einem Jahrzehnt Alltag in der Online-Enzyklopädie Wikipedia: Sie wird komplett von Freiwilligen geschrieben und ist damit prinzipiell anfällig für Manipulationen aller Art. Nicht einmal eine E-Mail-Adresse muss angegeben werden, um die Enzyklopädieartikel umzuschreiben.
Völlig anonym sind solche Änderungen, genannt „Edits“, dennoch nicht. Und so kamen die Manipulationen zum Propaganda-Krieg um die Ukraine durch eine Reihe neuer Twitter-Bots an die Öffentlichkeit. Diese Programme suchen im Datenstrom der Wikipedia gezielt nach Internetadressen von staatlichen Institutionen oder Firmen und veröffentlichen sie auf Twitter.
Parlamente, Regierungen, Ölindustrie
Den Anfang machte der Twitter-Account @parliamentedits, der die Änderungen aus dem britischen Parlament auflistete, dann kam die US-Ausgabe @congressedits, gefolgt von branchenspezifischen Accounts wie @oiledits. Mehrere der Accounts hatten schnell Tausende Follower, doch spektakuläre Manipulationen entdeckten sie nicht. Denn so plumpe Änderungen wie um den Flug MH17 werden von den Wikipedia-Autoren sofort entdeckt und oft innerhalb von Sekunden rückgäng gemacht – egal ob eine staatliche Adresse dahintersteht oder nicht.
Die deutschen Ableger der Transparenztwitteria zeigen dann auch ein Bild der Langeweile. Unter @bundesedit erfährt man, dass aus dem Netz der Bundeswehr ein Link auf eine Bundeswehrseite gesetzt wurde, ein mutmaßlicher Mitarbeiter des Bundestags ergänzt einen Buchverweis beim Kölner Schriftstellers Volker Kutscher. Die meisten anonymen Änderungen sind aber Verbesserungen von Rechtschreibfehlern. Die Mini-Ausbesserungen waren soweit in der Überzahl, dass @bundesedit sie nun herauszufiltern versucht.
„Banal und langweilig“
Wer meint, über anonyme Edits die Wikipedia manipulieren zu können, hat in den letzten Jahren nicht aufgepasst. So sorgte schon der Verdacht, der jetzige FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner habe verdeckt seinen Wikipedia-Eintrag manipulieren wollen, für Schlagzeilen und einen Rechtsstreit. Zudem stehen anonyme Änderungen bei Wikipedia unter einem Generalverdacht und werden schnell rückgängig gemacht, wenn sie unbelegte Behauptungen enthalten.
Für Wikipedianer sind solche Streitigkeiten ein alter Hut. „Es gibt sicherlich irgendwo den Sachbearbeiter im Forstwirtschaftsministerium, der Kritik an seinem Minister löschen will, aber dies ist noch lange keine groß angelegte Manipulation“, schreibt Wikipedia-Autor Michael Schmalenstroer in seinem Blog. Für ihn ist der Account @bundesedit deshalb kein Mittel, die Transparenz zu erhöhen, sondern „recht banal und langweilig“.
Wer Wikipedia-Artikel nachhaltig manipulieren will, muss sich schon schlauer verhalten. So hatten Wikipedia-Aktivisten im vergangenen Jahr ein Netzwerk Hunderter Fake-Accounts entdeckt, die gezielt dazu angelegt waren, Einträge der Kunden eines PR-Unternehmens aufzuhübschen. Die Twitter-Bots sind angesichts solcher Methoden jedoch machtlos: Die Absendeadressen von Accountinhabern veröffentlicht Wikipedia nämlich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Krise der Ampel
Lindner spielt das Angsthasenspiel