Staatenlos leben: Vogelfreie der Moderne
Reiseverbot, Ausschluss von Sozialleistungen, fehlender Alltag: Die Staatsbürgerschaft zu entziehen, kann als Instrument der Verfolgung eingesetzt werden.
![](https://taz.de/picture/83061/14/staatenlosausgeschlossen16112014_photocase.jpg)
So wie es keinen Flecken Erde mehr gibt, der keiner Jurisdiktion unterliegt, dürfte es auch keine Menschen mehr geben, die keinem Staat angehören. Aber es gibt sie doch.
Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einem Staat ist im Völkerrecht so grundlegend, so fest wie das Eltern-Kind-Verhältnis. Verstöße sind tabu. Aber es geschieht eben doch.
Staatenlose leben im Niemandsland der Weltgemeinschaft. Dabei hat eigentlich jeder das Recht auf einen Pass. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte legt dies fest. Und trotzdem gibt es weltweit zehn Millionen, europaweit 600.000 und in Deutschland 13.000 Menschen, die kein Land als die Seinen betrachtet. „Staatenlos sein ist wie blind sein. Man geht aus der Haustür und hat auf nichts Zugriff“, sagt die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR, Carlotta Sami. Keine medizinische Versorgung, keine Chance auf Schule oder Job. Kurzum: kein Zuhause.
Die Vereinten Nationen wollen das Problem nach eigenen Angaben innerhalb der nächsten zehn Jahre aus der Welt schaffen. UNHCR startete vor zwei Wochen eine Kampagne gegen diese „schlimme Anomalie des 21. Jahrhunderts“.
Staatenlose können nicht reisen, sie sind von der politischen Teilnahme und oft von grundlegenden Sozialleistungen ausgeschlossen. Vielfach landen sie in Abschiebehaft, ohne dass es ein Land gäbe, in das sie abgeschoben werden können. In Ländern wie Deutschland, in denen das Blutprinzip der Staatsangehörigkeit gilt, vererbt sich dieser Schwebezustand auf die Kinder.
Staatenlosigkeit kann als Instrument von Verfolgung dienen. Während der Militärdiktatur in Griechenland verließen zahlreiche Oppositionelle, Intellektuelle und Künstler das Land. Die Militärjunta entzog den im Exil Lebenden per Dekret die griechische Staatsangehörigkeit. Diese Methode ist bis heute beliebt. Kuwait beispielsweise hat dieses Jahr schon 33 Menschen die Staatsbürgerschaft aberkannt. Zuletzt traf es am 19. Oktober den Oppositionspolitiker Musallam al-Barrak sowie Ahmad Jabar al-Schammari, den Eigentümer einer unabhängigen Zeitung und eines Fernsehsenders. Er verlor seine Medienunternehmen, al-Schammari und seine vier Kinder sind nun staatenlos.
Kalte Ausbürgerung
Eine Variante dieses offensiven Rauswurfs ist die kalte Ausbürgerung, beliebt bei Dissidenten im Exil: Oppositionellen wird in der Heimat oft kein Pass ausgestellt, sie müssen ohne fliehen. Einmal im Exil, weigern sich die Botschaften, ihnen Papiere auszustellen. Ihre Staatsangehörigkeit können sie nicht nachweisen, so rutschen sie in die faktische Staatenlosigkeit.
Staatenlosigkeit kann Folge des Patriarchats sein. 27 Länder verweigern Frauen das Recht, ihre Nationalität an die Kinder weiterzugeben. Gebärt beispielsweise eine iranische Frau ein Kind und ist der Vater unbekannt, gilt das Kind nicht als iranisch. Staatenlosigkeit kann Folge von Krisen und Konflikten sein: Heute ist das der Fall bei den vielen Kindern syrischer Frauen, die auf der Flucht geboren werden, aber in den Nachbarländern Ägypten, Türkei, Libanon, Irak, Jordanien keine Geburtsurkunde bekommen.
Ähnliches gilt bei Bewohnern der palästinensischen Autonomiegebiete. Sie erhalten von ihren Behörden einen palästinensischen Reisepass. Weil Palästina nicht als Staat anerkannt ist, gelten Bewohner des Westjordanlands und des Gazastreifens in den meisten westlichen Ländern jedoch als staatenlos.
Staatenlosigkeit kann auch Folge nationalistischen Wahns sein. Die meisten Staatenlosen leben deshalb in Myanmar: 800.000 Menschen muslimischen Glaubens, Angehörige der ethnischen Gruppe der Rohingya. Die Militärdiktatur wollte ein homogenes Volk schaffen, die Rohingya galten als Eindringlinge. 1982 entzog man ihnen per Gesetz die Nationalität.
In Deutschland kam das Thema zuletzt bei der Debatte um die IS-Dschihadisten auf. Konservative Innenpolitiker hatten vorgeschlagen, ihnen zur Strafe den deutschen Pass zu entziehen. Ob dies sinnvoll wäre, ist überaus fraglich. Staatenlos wären die Islamisten danach aber nicht: Infrage käme die Sanktion nur bei Doppelstaatlern, sodass ihnen ihr – oft türkischer – weiterer Pass bliebe.
In Deutschland gibt es noch kein spezielles Verfahren, um Staatenlosigkeit festzustellen. Um einen deutschen Pass zu bekommen, gelten für Staatenlose im Wesentlichen die gleichen Voraussetzungen wie für Bürger anderer Staaten: Sie müssen einen Einbürgerungstest bestehen, ein unbefristetes Aufenthaltsrecht haben, seit sechs Jahren legal in Deutschland leben, sich zum Grundgesetz bekennen, Deutsch sprechen, ihren Lebensunterhalt ohne Sozialhilfe bestreiten und dürfen nicht vorbestraft sein. Eine Voraussetzung zur Einbürgerung entfällt für sie: die Aufgabe der Staatsangehörigkeit.
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