Hartz 4: Keine Sippenhaft
Nur wer selbst verantwortlich ist, darf auch sanktioniert werden, sagt das Landessozialgericht. Die Bagis hatte einer Alleinerziehenden zu Unrecht Miete gekürzt
Eine erneute Niederlage vor dem Landessozialgericht erlitten hat jetzt die Bremer Agentur für Integration und Soziales (Bagis). In einem Grundsatzurteil entschieden die RichterInnen, dass es im Sozialrecht keine Sippenhaftung geben darf.
Im konkreten Fall ging es um eine alleinerziehende Mutter zweier Kinder aus Bremen-Nord, die drei Monate lang nur zwei Drittel ihrer Miete von der Bagis bekam. Nach einer wiederholten Sanktion wurden die ALG II-Leistungen für den älteren, 21-jährigen Sohn für drei Monate ganz gestrichen. Die Bagis zahlte also nur für die Mutter und das zweite, noch minderjährige Kind. Daraufhin kam es zu Mietrückständen und der Vermieter drohte mit Kündigung.
Das Sozialgericht Bremen hielt das Verfahren noch für rechtmäßig (Aktenzeichen S 9 AS 40 / 09 ER). Nicht so das Landessozialgericht Bremen-Niedersachsen: Da die Mutter keine Möglichkeit mehr gehabt habe, auf das Verhalten ihres älteren Sohnes maßgeblich Einfluss zu nehmen, dürfe die restliche Familie nicht durch die Sanktion dieses Sohnes mitbestraft werden, so die Celler RichterInnen (L 6 AS 335 / 09 B ER). Sie folgten damit der Argumentation des Auricher Sozialgerichts in einem ähnlichen Fall.
Sie finde "keinen Zugang" mehr zu ihrem Sohn, hatte die Mutter vor Gericht argumentiert. Und die Richter sahen dies auch als "ohne Weiteres glaubhaft" an. Er belüge sie über angebliche Ausbildungsplätze, Praktika und Termine, gab die Mutter zu Protokoll. Sie habe alles versucht, um noch Einfluss auf ihren Sohn zu nehmen. Selbst organisierte Therapiemaßnahmen hätten sich bisher als erfolglos erwiesen. Bereits in der Grundschule sei der Sohn Schulverweigerer gewesen, ein Psychologe stufte dies als phobische Reaktion gegen jede Ansammlung von Personen ein.
Leben hilfsbedürftige Personen zusammen, werden die Leistungen für Unterkunft und Heizung zwar prinzipiell pro Kopf gewährt. Dennoch habe die Familie Anspruch auf die gesamte Miete - alles andere "liefe auf eine Sippenhaftung hinaus, die dem Sozialrecht fremd ist", so die RichterInnen in ihrer Urteilsbegründung. Der Rest der Familie - insbesondere der noch minderjährige Sohn und Bruder - dürfe nicht in Mitverantwortung gezogen und auf diese Weise "gleichsam mitsanktioniert" werden. Eine Sanktion darf grundsätzlich nur jenen "erwerbsfähigen Hilfsbedürftigen" treffen, dem das "sanktionswürdige Verhalten" vorgeworfen werden kann.
Der Bremer Erwerbslosenverband (BEV) sprach von einem "wegweisenden Beschluss". Jetzt könne zumindest den "ärgsten Auswüchsen" der behördlichen "Verfolgungsbetreuung" ein Riegel vorgeschoben werden. Zugleich warf der BEV der zuständigen Bagis in Bremen-Nord vor, sich "wiederholt als rigoros und gnadenlos" gegenüber Hartz IV-EmpfängerInnen gezeigt zu haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen