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Doli Hilbert im Montagsinterview"Erst neulich dachte ich: Endlich werde ich erwachsen"

Doli Hilbert sucht in dem, was existiert, das Wunder. Zum Wunder des Lebens gehört, das Werden und Vergehen. Seit Jahren konzentriert sich die Künstlerin, die heute 90 Jahre alt wird, deshalb voller Neugierde auf ihr eigenes Verwelken.

Die neunzigjährige Künstlerin Doli Hilbert Bild: Anja Weber
Waltraud Schwab
Interview von Waltraud Schwab

Doli Hilbert

Die Skulpturen der 1919 geborenen Künstlerin und Bildhauerin tragen Namen wie "Rufende" oder "Vogelfrau", "Wächterin" oder "die Schöne", wie "1 Jahr Tschernobyl" oder "Beziehung". Vor allem mit Ton hat Doli Hilbert gearbeitet. Ihr lag es nicht, ihre Formen in einen vorgegebenen Stein zu meißeln. Als Ausgangsmaterial wählte sie lieber eine knetbare Erdmasse.

Neben der künstlerischen Arbeit war sie auch als Kunstpädagogin tätig. Sie hat in den 70er-Jahren in der Kirchengemeinde in Lankwitz eine Keramikwerkstatt aufgebaut. Zuerst hat sie mit Kindern aus dem Neubaugebiet gearbeitet, dann erweiterte sie das Konzept und bezog Mütter mit ein. 1974 gründete sie die Töpferinitiative Lankwitz e. V. - ein Verein, der bis heute besteht. Auch mit behinderten Frauen hat sie gearbeitet. Dafür wurde sie 1994 mit dem Berliner Frauenpreis ausgezeichnet.

Anlässlich des 90. Geburtstages von Doli Hilbert werden ihre Bilder von 30. Januar bis 15. März in der Begine, Potsdamer Straße 139, gezeigt. (Mo.-Fr. ab 18 Uhr, Sa. ab 19 Uhr). Skulpturen sind am 7./8. Februar bei den zwei Sammlerinnen Schilling und von Lengerke in Werder zu besichtigen. Tel.: (0 33 27) 57 15 87

taz: Frau Hilbert, schon zehn Jahre verlassen Sie die Wohnung nicht mehr. Werden Sie heute, an Ihrem 90. Geburtstag, eine Ausnahme machen?

Doli Hilbert: Nein.

Warum gehen Sie nicht mehr aus dem Haus?

Ich habe vor zehn Jahren angefangen, mich vorzubereiten.

Auf den Tod?

Ja. Ich habe zu früh angefangen. Aber das kann man vorher nicht wissen. Ich habe immer gern beobachtet, wie Blumen aufgehen, blühen und vergehen. Das Verwelkte hat wunderschöne Farben. Ich wollte dem Verwelken meines eigenen Lebens nachgehen und nicht dabei abgelenkt werden.

War das eine bewusste Entscheidung?

Ein wenig hat mich Wolfgang Neuss inspiriert. Der war Kabarettist und ist immer mit einer Pauke aufgetreten. Ich hab ihn bewundert. Was der Neuss wollte - nämlich in die Tiefe seines Innern gehen und das Bewusstsein stärken -, das will ich auch schaffen. Aber nicht wie er mit Drogen. Das mit seinen kaputten Zähnen hat mir auch gefallen. Ich wollte nie ein Gebiss haben. Als meine Zähne langsam abgebrochen sind, hat die Zahnärztin mir von einer Frau erzählt, die ihr vor Freude über das neue Gebiss einen Blumenstrauß schenkte. Da sagte ich: Wenn Sie mich nicht weiter beeinflussen, bringe ich Ihnen auch Blumen. Ich will das so.

Weil es zum Verwelken gehört?

Ja. Dass ich immer noch Medikamente nehme, obwohl man damit sein Leben verlängern kann, hat damit zu tun, dass ich im Schönen sterbe möchte. Ich kann Schmerzen nicht gut aushalten.

Würden Sie sonst keine Medikamente mehr nehmen?

Ich habe eigentlich vor, alles zu lassen. Aber dafür braucht man Mut. Den hab ich noch nicht.

Wollen Sie irgendwann auch nicht mehr essen?

Das schaffe ich nicht. Ich esse gerne. Ich koche gerne. Das Sterben muss anders passieren. Im Grunde bin ich zu gesund für diese Aktion.

Stört Sie die Vorstellung, dass Sie noch zehn Jahre leben könnten?

Sehr. Ich wünsche mir, dass es nicht mehr so lange dauert. Ich wünsche mir einen schönen Tag mit Sonnenschein dafür. Dann gehe ich ein in den Kosmos, und die ganzen Panzerungen hören auf. Der Körper ist für mich doch mehr so ein Panzer. Mein Rücken ist kaputt. Weil ich immer diese schweren Skulpturen aus Ton getragen habe.

Sie sagten mal, dass die Welt zu Ihnen kommt, seit Sie nicht mehr aus der Wohnung gehen.

Früher wurde ich von vielen Menschen besucht. Aber das habe ich eingeschränkt. Ich will mich nicht so stören lassen in mir selber. Ich liege gerne im Bett und höre Musik.

Fühlen Sie sich nie allein?

Nein. Viele verstehen nicht, dass ich Zeit für mich brauche. Auch meine großen Lieben nicht. Ich bin ja mit 60 noch eine Lesbe geworden. Ich habe die Beziehungen aber immer wieder abgebrochen, weil ich meine Unabhängigkeit brauche.

Sie beschäftigen sich mit Vergänglichkeit. Gleichzeitig haben Sie Kunstwerke geschaffen, die überdauern.

Das stimmt so nicht. Ich habe viele Papiercollagen gemacht. Die verfärben sich, das Papier verblasst. Und dann habe ich mit Ton gearbeitet, weil ich vom Nichts in die Form gehen muss. Von außen, von einem Steinblock aus, in die Form zu gehen, das liegt mir nicht. Ton ist aber vergänglich. Gut, die Scherben können sehr lange in der Erde ruhen. Aber heil bleiben die Tonarbeiten auf Dauer nicht.

Sie gehören einer Generation an, die große Geschichte erlebt hat: Nazi-Zeit, Krieg, Ruinen, die Mauer, die 68er. Wie gehen Sie, wenn Sie mit sich allein sind, mit Ihrem gelebten Leben um?

Ich habe lange nicht zurückgeschaut. Zuerst habe ich immer nur Kopfschmerzen bekommen, wenn ich zurückgeschaut habe. Zurückschauen ist ein merkwürdiger Vorgang. Aber jetzt liebe ich es.

Wie sehen Sie sich beim Zurückgucken?

Ich seh mich immer lesen. Im Bett, auf dem Klo, im Zimmer meiner Tante. Bei ihr hatte ich Ruhe. Meine Familie war mir zu laut. Mit Dienstmädchen, mit Kindern. Meine Mutter hat sich zu viel gefallen lassen von meinem Vater.

Wie kommt es, dass Ihr künstlerisches Talent überhaupt gefördert wurde? Ihre Ausbildung fiel ja in die Nazi-Zeit.

Ich hatte einen Nazi-Vater. Der hat zu mir gesagt: Du hast am 1. April 1935 in der Kunstschule zu sein. Ich fragte ihn: wieso? Ich muss doch erst mal was zeichnen. Da hat er organisiert, dass ich zwei Jahre in die Landwirtschaft gehe. Mir war das recht, ich wollte weg. Aber gezeichnet habe ich da nicht.

Nach der landwirtschaftlichen Ausbildung sollten Sie erneut an die Kunstschule.

Ich habe mich wieder geweigert. Da hat mein Vater mich an die Soziale Frauenschule vermittelt. Aber die Werklehrerin dort hat auch gesagt, ich müsse an die Kunstschule, bloß weil ich mal eine Hand, einen Kopf modelliert habe. Von mir muss irgendwas ausgegangen sein, obwohl ich mich selbst nur als verträumt und lesend in Erinnerung habe. Das war meine Flucht aus der Realität.

Es gab allen Grund für Flucht: Nazis, Krieg.

Vorher war ich auch schon so. Die Werklehrerin hat mich in die Keramikwerkstatt von Jan Bontjes van Beek geschickt. Er und Cato, seine Tochter aus einer früheren Ehe, hatten Kontakt zur Widerstandsgruppe "Rote Kapelle". Cato wurde in Plötzensee hingerichtet. Van Beek wollte mich als Lehrling. Ich war aber nur kurz bei ihm, weil ich dienstverpflichtet wurde. Weil ich den Befehl ignorierte, drohte man, mich von der Polizei abholen zu lassen. Das wollte van Beek nicht, weil er in seiner Werkstatt eine Jüdin versteckte. Deshalb bin ich meiner Dienstverpflichtung in Nauen doch nachgegangen. Weil ich da aber wieder rauswollte, habe ich geheiratet und versucht, schwanger zu werden. Nur kam monatelang kein Kind. Abends und am Wochenende bin ich noch zu van Beek in die Werkstatt.

War das wie eine zweite Wirklichkeit dort?

Für mich war die Van-Beek-Familie die Rettung. Ich habe oft zu meinem Vater gesagt: Mit deinem Hitler stimmt es nicht. Mehr habe ich nicht gesagt. Van Beek war Kommunist. Ich empfand ihn als einen heiteren Kommunisten. Alles wirkte heiter. Ich wusste auch nicht, dass die Polin in der Werkstatt eine Jüdin war. Ich war unglaublich naiv. Das haben die van Beeks mitgekriegt. Und dann wussten sie noch, dass mein Vater in der Nazi-Partei war. Da haben die natürlich nicht viel gesagt.

Im Januar 1945 kriegten Sie doch ein Kind.

Das starb bald. Ich ging nach Bayern zu meiner Schwester. Nach dem Krieg wollte ich wieder nach Berlin. Mit Hilfe des Roten Kreuzes gelang es mir, bei van Beeks Frau zu arbeiten. Sie hatte vier kleine Kinder. Sie brachte mich mit Künstlern in Kontakt. Und die sagten auch: Du musst zur Kunstschule.

1947 fingen Sie an der Burg Giebichenstein in Halle an, Kunst zu studieren.

Dass ich es gemacht habe, hat nicht allein mit meinen Einstellungen zu tun, sondern auch mit den Leuten, die mich geformt haben. Ich war mit einem Bein ja gar nicht in der Wirklichkeit.

Sie haben, trotz Kunsthochschule, jahrelang ein ganz traditionelles Leben gelebt, nachdem Ihr Mann aus der Gefangenschaft zurückkam.

Ich hatte immer Angst davor, dass er wieder zurückkommt. Ich wollte mich scheiden lassen.

Sie haben nicht zusammengepasst?

Schon auf der Hochzeitsreise nicht. Da kam ich mir vor wie eine Kuh mit Stempel auf der Stirn. Der tolle Kumpel wurde ein autoritärer Ehemann. Ich habe ja nicht aus Liebe geheiratet, sondern weil ich nicht dienstverpflichtet sein wollte.

Sie haben sich aber nicht scheiden lassen.

Er kam aus der Gefangenschaft und sagte, die Gedanken an mich hätten ihn gerettet. Da bin ich weich geworden.

Sie bekamen drei Kinder.

Das war Zufall. Da müssen irgendwann so komische Momente gewesen sein.

Wie lebten Sie nach dem Krieg?

Mein Vater hatte eine Garage. Da wohnten wir. Wasser gab es nur draußen. Dahinter war ein Obstgarten. Das Obst konnten wir tauschen. Man hat weitergelebt. Im Krieg hat man ja auch weitergelebt. Man hätte jeden Tag tot sein können, und wenn Entwarnung war, hat man doch wieder geguckt, wo man das nächste Essen herkriegt.

Wann verabschiedeten Sie sich vom klassischen Familienmodell?

Das hatte ich schon in der Garage nicht so. Da bin ich im Winter viel im Bett gelegen, hab gelesen, und die Kinder spielten um mich rum. Ich habe sie auch oft allein gelassen. Ich war keine gute Mutter. Ende der 50er-Jahre haben wir eine Wohnung mit Zentralheizung gekriegt. Da fragte ich mich, wie wir in der Garage leben konnten. Jetzt lese ich viele Bücher über den Krieg, die Verfolgung der Juden. Ich verstehe einfach nicht, wie man auf einen Menschen schießen kann. - Obwohl, als dann die 68er kamen, fand ich es toll, dass man Politiker mit Eiern und Tomaten bewerfen kann.

Richtig bedeutungsvoll wurde für Sie aber erst die Frauenbewegung.

In den 70er-Jahren hat die Künstlerin Ebba Sakel eine Galerie aufgemacht und feministische Zeichenkurse angeboten. Da bin ich hin und habe gefragt, was feministisch an einem Zeichenkurs sein kann. Sie antwortete: Das wissen wir noch nicht, aber wir werden es herausfinden.

Als Sie 60 Jahre alt waren, haben Sie sich in eine Frau verliebt.

Ich fragte mich: Ist es nun Liebe oder ist es noch Neugierde? Man ist ja so unsicher beim ersten Mal und vor allem, wenn man schon 60 ist. Meine erste Frauenliebe hatte ich im Malkurs kennengelernt. Später hatte ich noch intensive Beziehungen zu zwei anderen Frauen. Ich bin immer noch mit allen befreundet. Aber die Zeit, als das Bett wichtig war, war anstrengender als jetzt.

Sind Sie gerne lesbisch?

Für mich gab es nichts anderes mehr. Ich war so begeistert. Ich wollte es allen erzählen. Bis ich merkte, ach Gott, lass es sein, sonst schicken die ihre Mädchen nicht mehr zu dir in die Keramikkurse, die ich in einer Kirchengemeinde in Lankwitz machte.

Hat sich die Hinwendung zu Frauen in Ihrem künstlerischen Schaffen gezeigt?

Frauenkörper auch in der Kunst - es gibt nichts Schöneres. Wenn beim Aktzeichnen mal ein Mann Modell stand, da war ja nichts dran. Und wenn was dran ist, dann ist es ein hässlicher Bauch.

Es gibt wenig Frauen, die so offen über all das sprechen. Warum tun Sie es?

Weil es mein Leben ist.

Kann es auch daran liegen, dass Sie den kindlichen Blick nie verloren haben?

Komisch, dass Sie das sagen. Erst neulich dachte ich: Endlich werde ich erwachsen. Weil ich jetzt Zeit habe, bei mir zu sein. Früher hab ich im Augenblick gelebt, jetzt hat Zeit mehr Gewicht. Mein Gott, was habe ich Zeit, wenn ich nicht schlafen kann. Oder tagsüber, wenn ich nicht mache, was ich machen müsste - aufräumen.

Alles soll geordnet sein bei Ihrem Tod?

Ich hab viel weggeworfen. Lass den Rest, den machen wir, sagen meine Freundinnen. Meine Beerdigung habe ich aber schon bezahlt.

Wie möchten Sie beerdigt werden?

In einem Sarg in der Erde.

Weil das besser zur Vergänglichkeit passt?

Sicher, obwohl die erste Aversion gegen das Verbrennen eher der Gedanke an die KZ-Krematorien war. Das mit dem Sarg ist aber auch nicht leicht. Ich bin doch so gegen Spinnen, Würmer und Fliegen. Damals, als ich begann, mich zurückzuziehen, dachte ich: Jetzt musst du mit all dem Getier aber endlich Freundschaft schließen.

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