Nach Mord an Boris Nemzow: Fragwürdige Suche nach den Tätern
Bei der Fahndung in Moskau gibt es viele Ungereimtheiten. Überwachungskameras sind mal an, mal aus. Und auch ein Schneepflug spielt eine Rolle.
MOSKAU taz | Am Dienstag wird der russische Oppositionelle Boris Nemzow in Moskau auf dem Friedhof Trojekurowo beigesetzt. Der Kremlkritiker war am Freitagabend in unmittelbarer Nähe der russischen Machtbastion von vier Schüssen hinterrücks niedergestreckt worden. In Trojekurowo liegt auch die bekannte Journalistin und Putinkritikerin Anna Politkowskaja.
Sie war im Oktober 2006 an Wladimir Putins Geburtstag von Tschetschenen in ihrem Hauseingang durch vier Schüsse aus unmittelbarer Nähe hingerichtet worden. Wie Boris Nemzow, der an jenem Tag sterben musste, an dem der russische Geheimdienst den Feiertag der „Sonderoperationen" begeht. Die Hintermänner im Fall Politkowskaja sind auch nach mehr als acht Jahren nicht ermittelt worden.
Der Antrag des einsitzenden russischen Oppositionellen, Alexei Nawalny, an der Beisetzung seines Freundes und politischen Mitstreiters Nemzow teilnehmen zu dürfen, wurde von der Moskauer Justiz am Montag abschlägig beschieden. Nawalny und Nemzow hatten am 20. Februar in der U-Bahn Flugblätter für eine geplante Demonstration am 1. März verteilt. Bei der Aktion wurde unterdessen nur Alexei Nawalny festgenommen und zu 15 Tagen Arrest verurteilt. Beobachter vermuten, dass die Machthaber befürchten, es könnte am Grab des gemeuchelten Oppositionellen zu Protestbekundungen kommen.
Das Ermittlungskomitee äußerte sich zum Gang der Nachforschungen bislang nicht näher. Bereits am Wochenende waren unscharfe Bilder einer Überwachungskamera vom Tatort aufgetaucht. Unter anderem fuhr darauf ein Schneeflug unmittelbar während des Überfalls am Tatort mit auffällig wechselnder Geschwindigkeit vorbei. An einem Freitag gegen Mitternacht in einer seit Wochen schneefreien Stadt. Das Räumfahrzeug bot den Tätern Schutz zur Flucht.
Ermittlungen in vier Richtungen
Eine Menge Ungereimtheiten begleiten die Ermittlungen bereits. Der Kommersant berichtete, dass die in der Nähe des Tatortes installierten Kameras am Freitagabend wegen eines Defektes nicht eingeschaltet waren. Moskaus Behörden dementierten dies jedoch. Zumindest auf einer an einem der Kremltürme angebrachten Kameras hätten schärfere Bilder zu sehen sein müssen. Sie hat den Tatort genau im Visier. Laut Kommersant soll sie zur Tatzeit ausgeschaltet gewesen sein. Da der Turm zum Hoheitsgebiet des Kreml gehört, dürfte es schwierig sein, dieses Missverständnis aufzuklären. Der Kommersant geht auch davon aus, dass der Täter womöglich nicht im Bilde war, wen er umbringen sollte.
Die Behörden ermitteln unterdessen in vier Richtungen. Die Fahnder halten es für möglich, dass ukrainische Kräfte dahinterstecken könnten. Eine zweite Spur geht von einem politischen Hintergrund aus. Diese Version unterstellt, dass mit der Tat die politischen Verhältnisse im Lande destabilisiert werden sollten. Sie weist die Schuld indirekt der Opposition zu und vermutet eine Verschwörung gegen den Kreml dahinter. Die dritte Spur führt wie immer in Russland in ein islamisch-extremistisches Umfeld. Boris Nemzow hatte sich nach dem Terroranschlag auf das Pariser Satiremagazin Charlie Hebdo mit den Zeichnern solidarisch erklärt.
Die Annahme, auch Geschäftsbeziehungen könnten ein Grund gewesen sein, wurde von Nemzows familiärem Umfeld dementiert. Demnach hätte sich der Oppositionelle seit Jahren aus der Geschäftswelt zurückgezogen.
Russische Beobachter halten die Fahndungsmotive für wenig ergiebig. Das Wirtschaftsblatt Wedomosti wirft die Frage auf, ob hinter dem Mord nicht eine Mehrheit der nationalistischen Sicherheitskräfte des Landes stünde, auf der Putins Macht fußt. Sie könnte versucht sein, die Rückkehr des Kremlchefs in den Kreis der „normalen Spitzenpolitiker der Welt“ für immer verhindern zu wollen. „Eine Verschärfung des Kurses wird eine politische und wirtschaftliche Schließung des Landes sowie harte Repressionen gegen Unzufriedene bedeuten. Die Wirtschaft lässt sich dann schon voll und ganz vergessen.“
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