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Schlagloch Nationalismus in EuropaVon politisch bis populistisch

Kommentar von Georg Seesslen

Willy Brandts „Mehr Demokratie wagen“ kontert Angela Merkel mit „Mehr Freiheit wagen“. Die Folge ist mehr Nationalismus in Europa.

Freie Sicht? Langer Weg! Die Geschichte der europäischen Demokratie hat noch nicht einmal angefangen. Bild: dpa

W ählt man eigentlich, um Demokratie als aktive politische Teilhabe zu fordern, zu fördern oder zu verteidigen? Oder wählt man, um jene Kräfte zu ermächtigen, die am nützlichsten für die eigene wirtschaftliche Verbesserung oder zumindest den Erhalt des Status‘ erscheinen?

Was für eine Frage, hätte ein freundlicher Theoretiker in den fünfziger Jahren noch gesagt. Das eine ist doch ohne das andere nicht vorstellbar. Mit dem Siegeszug des Neoliberalismus, nicht nur als ein ökonomisches System von „Privatisierung“, „Deregulierung“ und „Globalisierung“, sondern auch als Denkweise, sieht die Sache allerdings schon anders aus.

Hier gibt es nämlich zwei Arten von „Freiheit“: Die Demokratie versprach die Freiheit durch die Politik. Die Bürgerinnen und Bürger sollten durch Teilhabe, durch Information, durch das aktive und passive Wahlrecht, durch rechtsstaatliche Instrumente der Kontrolle ihre Interessen durchsetzen und ihre Freiheit entfalten, möglichst in immer weiteren Bereichen des sozialen, politischen und kulturellen Lebens.

Das war das Programm von Willy Brandt, als er 1969 erklärte, man solle „mehr Demokratie“ wagen; die Geschichte der Demokratie sei erst am Anfang. 2005 griff Bundeskanzlerin Angela Merkel das Ideogramm wieder auf und sprach davon, „mehr Freiheit wagen“ zu wollen. Offensichtlich meinte sie genau das Gegenteil von dem, was Willy Brandt im Sinne hatte.

Freiheit Politik

Wie alle Adepten des Neoliberalismus versprach sie nicht Freiheit in der Politik und Freiheit durch Politik, sondern Freiheit von Politik. Der homo oeconomicus soll seine Fähigkeiten möglichst frei von Eingriff und „Gängelung“ durch Staat, Bürokratie und Europa entfalten. Eine „marktkonforme Demokratie“ ist das Projekt der Verschiebung der Freiheit von der Politik auf die Ökonomie, der Umwandlung von Politik in Anti-Politik.

Bis in die siebziger Jahre hinein glaubte man, der Kapitalismus habe seine zyklische Krisenproduktion überwunden. Doch mit den neuen Krisen kam auch der Widerspruch zurück: Um die notwendigen Korrekturen nach den jeweiligen Krisen durchzuführen, musste die Ökonomie verstärkt nach der Politik greifen und sie daran hindern, die Freiheit der Marktentfaltung zu reduzieren.

Dass die Politik selber zum Mittel wurde, den Märkten eine Freiheit von der Politik zu gewährleisten, führte natürlich dazu, dass die Freiheit durch Politik, also mehr als die punktuellen Berührungen durch Wahlen, ein Projekt der Demokratisierung des Lebens obsolet wurde. Da Bürgerinnen und Bürger zugleich auch „Marktteilnehmer“ waren, konnten sie auf diese Verschiebung der Freiheit kaum angemessen reagieren.

Die Freiheit von Politik wuchs in den Krisen und in den Folgezeiten ins scheinbar Unermessliche. Alle sollten von Deregulationen profitieren. Die Unternehmen wurden frei, die Menschen auch Sonntags und Nachts arbeiten zu lassen, und die Konsumenten wurden frei, auch Sonntags und Nachts einzukaufen. Von jeder Freiheit, die der Ökonomie von der Politik gewährt wurde, bekamen die Bürger ein klein wenig ab. Gleichzeitig verloren sie immer mehr politische Freiheit.

Parodistisches Extrembild Italien

Im Berlusconismus schuf sich diese absurde Anti-Politik – man wählt mehr oder weniger demokratisch eine politische Kraft, die verspricht, die Politik mehr oder weniger abzuschaffen – ein parodistisches Extrembild. Aber eigentlich führten die geänderten ökonomischen Bedingungen in allen europäischen Ländern in die Freiheitsfalle.

In Deutschland scheint bereits die Hälfte der Menschen für das Projekt der „repräsentativen Demokratie“ verloren, um so mehr, als „Europa“ die Fehler und Widersprüche dieses Systems nicht etwa zu korrigieren, sondern ins Unermessliche zu steigern versucht.

Wenn überhaupt, dann nutzt man daher die Europawahl dazu, Signale zu versenden oder ökonomische Vor- und Nachteile abzuwägen. Begeisterung sieht jedenfalls anders aus. Es ist auch diese Begeisterungslosigkeit, die zum Anti-Politischen, zum Apolitischen und zum Populistischen führt.

Der Widerspruch zwischen verschwindender Politik („Demokratisierung“) und hegemonialer Antipolitik („Ökonomisierung“) erzeugt nicht nur den Apolitischen, der keinen Zusammenhang zwischen seinem Leben und den politischen Events zu sehen vermag, sondern auch einen verzweifelten, oft bösartigen Versuch der Wiedergewinnung des Politischen. Die Rest-Politischen, die Anti-Politischen und ein Teil der Apolitischen nennen diese „Sammelbecken“ populistisch.

Komm in mein Sammelbecken

Die Wiedergewinnung des Politischen durch nationalistische, offen rassistische und antidemokratische Impulse ist gleichsam das negative Abbild der hegemonialen Anti-Politik. Letzten Endes geht es in diesen Bewegungen darum, die Demokratie (oder doch die Postdemokratie) abzuschaffen, damit eine Art „Volk“ wieder Subjekt der Geschichte werden kann.

In dieser dritten Verschiebung von Freiheit sammelt sich mehr als der böse Bodensatz der westlichen Gesellschaften mit ihren wachsenden Ungerechtigkeiten. Wir blicken in eine Zukunft Europas, das von Bürokraten, Oligarchen und Halbfaschisten beherrscht wird.

Warum also haben wir gewählt? Haben wir die Rest-Demokratie verteidigt? Haben wir die ökonomisierte Anti-Politik, dieses Versprechen, beim Konsumieren, beim Karrieremachen, beim ökonomischen Spiel, weitgehend von politischer Einmischung frei zu werden, voran gebracht? Wurde die halbfaschistische Repolitisierung vorangetrieben, die Rechte und Freiheiten immer nur für die jeweils eigene Klientel verlangen und alle anderen zum Teufel gehen lassen?

Bildeten sich hier und dort Inseln eines klassischen Demokratie-Verständnisses, die Freiheit durch Politik (und zwar für alle) fordern, und nicht Freiheit von Politik? Inseln, die politische Kontrolle der Ökonomie fordern anstelle von ökonomischer Kontrolle der Politik? Oder geht alles genauso weiter wie vor der Wahl? Sicher ist nur: Die Geschichte der europäischen Demokratie hat noch nicht einmal angefangen.

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6 Kommentare

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  • Während der historische deutsche Nationalismus die eigene Nation über die anderer Völker erhebt, bringt der deutsche Kapital-Faschismus nach 1933 und heute dementsprechend modifiziert, -- so der heutige deutsch-europäische Kapitalfaschismus --, die Internationalisierung des Finanz- und Monopolkapitals zum Ausdruck und rechtfertigt die ökonomische, ideologisch-manipulatorische, militärisch-geopolitische und gesellschaftspolitische Unterdrückung anderer Völker.

     

    Dies, unter dem erfolgreichen massen-psychologischen und post-faschistischen Deckmantel von Gauckscher "Freiheit", "Demokratie" und "Menschenrechte". --

     

    Immer noch erfolgreich im Herrschaftsinteresse der deutschen Finanz- und Monopolbourgeoisie. So auch deren hündische spezialdemokratische GroKo und Parlamentsmehrheit.

  • Die sogenannten Christlich-Sozialen treiben den Rechtsparteien die Wähler förmlich in die Hände. In der EVP ist der Demokratiefeind Orban vertreten, der weit rechts steht. Die Farce um die Kommission zeigt ebenfalls, dass Mitte und Rechts gar keinen Willen haben, die EU demokratisch zu gestalten. Und dann kommen eben die Damen und Herren von den Biertischen

     

    http://youtu.be/4KpfTzzoL8U

  • Demokratie wozu, btw. Man muss Bakunin als Vater der good gouvernance verstehen. Wie sollten den Kommissionspraesidenten nach (alt)griechischem Vorbild erwuerfreln. Jeder ist gleich gut fuer diesen Posten. Die Wahlbeteiligung in Aegypten macht es vor.

  • Der linke Nationalismus hat in Deutschland Tradition, wie die NZZ heute schreibt und die Reaktion der SPD auf Snowden und noch spezieller die Reaktion von Stroebele auf die weiuse Entscheidung des Generalbundesanwaltes zeigt. Es gibt Dinge, die liegen auf der Hand und sind allgemeinbekannt, ohne dass sie irgendwie fassbar sind. Stroebele hat Recht, es ist aber ganz sinnlos, den Generalbundesanwalt noch mehr zwingen zu wollen, noch mehr Farbe zu bekennen. In der Google-Uni von Pernice unjd Co liegt ein interessantes Paper ueber die zwingende Notwendigkeit einer Internationalisierung der Geheimdienste, wobei Europa nur ein pars pro totum ist. Siehe im Uebrigen Paragraph 21 des deutschen Europawahlgesetzes und die Anzeige der AfD gegen den Doppelstaatler, der doppelt abgestimmt hat, Hegels Weltgeist in action. Luke hat vollkommen Recht, aber ganz anders, als seine Gegner meinen. Das versammelte Subproletariat wird die nach der nur muehselig wegggeredeten europaeischen Lehmannpleite politisch notwendige tiefere Integration Europas erzwingen. Gut eingefaedelt, chapeau. Alle werden es toll finden, es wird Diskussionen geben ueber das Stimmgewicht der Deutschen im Europaparlament und die franzoesisch/italienische Grenze. Jeder, der nach Europa kommen will, ist herzlich willkommen, was in Italien ehrlich gemeint ist. Mamma Roma!

  • Dabei stellt ihr der Einheit "Volk" aber auch nicht so wirklich die Freheit des Individuums, des "homo", gegenüber, wie es scheint. Nur einen anders heißenden Ameisenhaufen.

  • Sehr guter Artikel.

    Interessant ist auch mal wieder, dass gewisse Leute die Probleme zwischen den "Völkern" sehen und anstelle zwischen Arm und Reich, wie dieser Artikel ja u.a. hervorhebt.