Kampf um die Ostukraine: „Kiew hat keine Eier in der Hose“
Der „Antiterrorkampf“ im Osten des Landes ist stecken geblieben. Soldaten wechseln die Seite, Bewohner beklagen die fehlende Macht der Zentralregierung.
BERLIN/KIEW taz | Dem ukrainischen Militär gelingt es offenbar nicht, die Lage im Osten des Landes unter ihre Kontrolle zu bekommen. Auch am Mittwoch hielten prorussische Separatisten in zehn Städten Verwaltungsgebäude und Polizeistationen besetzt. In Slawiansk wechselten Berichten örtlicher Medien zufolge Regierungseinheiten die Seiten. Durch die Stadt fuhren mindestens sechs Schützenpanzer mit der russischen Flagge.
Auf den Fahrzeugen saßen mit Kalaschnikow-Gewehren, Granatwerfern, Messern und Pistolen bewaffnete Männer in Uniformen mit unterschiedlichen Tarnmustern. Es handelte sich offenbar um prorussische Kräfte. Die Panzer, die auch die Separatisten-Flagge trugen, stoppten vor dem Rathaus der Stadt, das vor einigen Tagen von den Separatisten eingenommen worden war.
Ein übergelaufener Soldat sagte in Slawiansk, er und andere Angehörige der Fallschirmjäger hätten sich entschieden, die Seiten zu wechseln, weil sie nicht auf das eigene Volk schießen wollten. „Sie haben uns in unserem Stützpunkt drei Tage lang nichts zu essen gegeben. Hier bekommen wir etwas zu essen. Was glauben Sie, für wen wir kämpfen?“
„Dass, was derzeit bei uns und in anderen Städten passiert, ist idiotisch“, sagte Irina, Krankenschwester aus Slawiansk, die ihren Nachnamen nicht nennen wollte. „Sie nehmen ein Gebäude nach dem anderen ein und die Polizei tut nichts. Die neue Regierung will um jeden Preis die Wahlen im Mai durchziehen, dabei geht es doch jetzt darum, das Land zu retten. Diese Macht, die hat doch keine Eier in der Hose. Wenn das so weitergeht und nur noch Russen das Geschehen bestimmen, werde auch ich sie bald unterstützen“, sagte sie.
Aktuelle Bilder zur Lage in der Ostukraine sehen Sie in unserer Bildergalerie zum Thema.
30 Bewohner stellen sich Panzern in den Weg
In der 15 Kilometer von Slawiansk entfernt gelegenen Stadt Kramatorsk, deren Flughafen ukrainische Soldaten eigenen Angaben zufolge am Dienstag von den Separatisten zurückerobert hatten, gab es am Mittwoch keine Anzeichen für Gefechte. Dort fuhren am Morgen sieben Schützenpanzer mit der ukrainischen Flagge durch die Straßen – offenbar um zu demonstrieren, dass die Führung in Kiew die Kontrolle über den Ort zurückgewonnen hat. Rund 30 Bewohner der russisch geprägten Stadt stellten sich den gepanzerten Fahrzeugen kurz in den Weg. Soldaten stiegen aus und drängten die Menschen weg. Ein Schuss wurde abgefeuert, bevor der Fahrzeugkonvoi weiterfuhr.
Bewohner versorgten Soldaten mit Tee und Lebensmitteln. Die Armeeangehörigen wirkten erschöpft. Ein Zivilist berichtete, er habe gesehen, wie ukrainische Soldaten ihre gepanzerten Fahrzeuge prorussischen Separatisten übergeben hätten. Der ukrainische Verteidigungsminister Mihailo Kowal kündigte eine Reise in den Osten an, um sich über die Lage der Truppen zu informieren.
In Donezk stürmten mindestens 20 Bewaffnete offiziellen Angaben zufolge das Rathaus. „Hier ist überall eine große Anspannung zu spüren“, sagte Dmitri, der eine Handelsgesellschaft leitet. „Jeden Tag werden die grünen Männchen mehr. Das Schlimmste ist, dass wir keine Unterstützung aus Kiew bekommen. Die reden bloß, formulieren Ultimaten, aus denen nichts folgt. Genau deshalb wächst die Zahl der Anhänger der grünen Männchen. Sollte das so weitergehen, wird die Region auseinanderbrechen. Und dann herrscht nur noch Chaos“, sagte er.
Meldungen, wonach auch in Odessa am Schwarzen Meer eine Volksrepublik ausgerufen worden sei, wurden von den dortigen Aktivisten der „Anti-Maidan-Bewegung“ dementiert. „Wir werden unseren Kampf nicht einstellen, aber von derartigen Aktivitäten wissen wir nichts“, sagte einer der Anführer der Bewegung, Artjom Davydschenko dem ukrainischen Nachrichtenportal Ukrainska Pravda.
„Russland exportiert Terror“
Unterdessen erhob der ukrainische Regierungschef Arseni Jazenjuk erneut schwere Vorwürfe gegen Russland: „Außer Öl und Gas exportiert Russland auch Terror in die Ukraine.“ Er forderte die Führung in Moskau auf, das Vorgehen der Separatisten als „Terrorakte“ abzulehnen. Russland müsse dies öffentlich einräumen und dann seine „Spionage- und Sabotagegruppen“ zurückziehen.
Demgegenüber warnte der russische Präsident Wladimir Putin vor einer weiteren Eskalation. In einem Telefonat mit Bundeskanzlerin Angela Merkel sagte er am Dienstagabend, die Ukraine befinde sich „am Rande eines Bürgerkriegs“.
Putin sagte dem Kreml zufolge in einem Telefonat mit UN-Generalsekretär Ban Ki Moon, er erwarte eine „klare Verurteilung“ des „verfassungswidrigen Verhaltens“ Kiews durch die Vereinten Nationen. (mit dpa, reuters)
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“