Kommentar Twittersperre in der Türkei: Eine Liga mit Pakistan und China
Nie hat der türkische Staat Kosten und Mühe gescheut, sich vor aller Welt zu blamieren. Aber was will Erdoğan mit der Twittersperre erreichen?
S elbst wenn sie zuweilen den gegenteiligen Eindruck erwecken, ist es den Türken keineswegs egal, was man im Ausland über sie denkt. Ich erinnere mich, wie vor 25 Jahren Verwandte und Bekannte meinen Vater bei Besuchen in der Türkei fragten: „Sag mal, wie sieht die Türkei von Europa betrachtet aus?“ Eine Standardfrage, auf die mein Vater eine Standardantwort parat hatte: „Ungefähr so, wie Pakistan von hier betrachtet aussieht.“ Das war zwar pointiert, kam aber meist nicht so gut an. Denn mit einem Land wie Pakistan wollten die Leute die Türkei nicht gleichgesetzt wissen, schon damals nicht.
Doch die Wahrheit ist: Aus der Ferne betrachtet gehört Türkei in eine Liga mit Ländern wie Pakistan, dem Iran oder China. Nicht im Hinblick auf den Zustand der Zivilgesellschaft, aber im Hinblick auf die Verfasstheit des Staates. Das ist allerdings nicht erst seit Antritt der AKP-Regierung so.
Ob der Dichter Nazım Hikmet, der Romancier Orhan Kemal, der Maler Abidin Dino, der Musiker Ruhi Su oder der Regisseur Yılmaz Güney – seit Gründung der Republik ließ sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, der Rang türkischer Künstler zuverlässig an der Zahl der Jahre ablesen, die sie in türkischen Gefängnissen eingekerkert waren. Meist lautete die Anklage kommunistische Umtriebe, später „Separatismus“.
Nie hat der türkische Staat Kosten und Mühe gescheut, sich vor aller Welt zu blamieren (um hinterher über seinen schlechten Ruf zu jammern). Und in einem Land, in dem selbst seine (internationale) Bekanntheit einen Künstler nicht vor Verfolgung schützte, waren alle anderen erst recht Gefängnis und Folter ausgeliefert.
Noch vor einem Jahrzehnt wurden die Schriftstellerin Elif Şafak, der spätere Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk oder der armenisch-türkische Publizist Hrant Dink wegen „Verunglimpfung des Türkentums“ vor Gericht gestellt. Diese Prozesse führte die alte kemalistische Justiz. Ein paar Jahre später war die mit einem anderen Personal besetzt. Nun gingen Staatsanwälte aus den Reihen der islamischen Gülen-Bewegung – größtenteils dieselben Leute, die später die Korruptionsermittlungen gegen führende Mitglieder der AKP-Regierung einleiten sollten – gegen regierungskritische Intellektuelle vor.
Geübt, Sperren zu umgehen
Größtenteils, aber nicht ausschließlich traf es Kemalisten und Kurden; angeklagt wurden etwa die Journalisten Ahmet Şık oder Mustafa Balbay. Und der hanebüchene Prozess gegen die Soziologin Pınar Selek bewies Kontinuität: Das Verfahren begann 1998, letztinstanzlich zu lebenslanger Haft verurteilt wurde sie Anfang 2013.
Ihren 154. Platz auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen – sechs Plätze hinter Russland, vier vor Pakistan – hatte sich die Türkei also schon vor dem Donnerstagabend redlich verdient, als der Zugang zu Twitter blockiert wurde.
Nun sind die türkischen User darin geübt, Internetsperren zu umgehen, weshalb in der Türkei Twitter jetzt keineswegs tot ist. Auch der Regierung dürfte es dämmern, dass sie Twitter nicht vollständig bändigen kann. Doch ihr dürfte es um den größeren Rest der türkischen Gesellschaft gehen. Denn so verbreitet Twitter in der Türkei auch ist – der größere Teil der Menschen hat die kompromittierenden Tonbandmitschnitte nie gehört haben, weil diese außerhalb kleiner oppositioneller Sender nicht im Fernsehen ausgestrahlt wurden.
Ganz so, als würde man dem Staffelfinale einer Fernsehserie entgegenfiebern, spekulieren die Leute, welches Schmankerl sich die mutmaßlichen Urheber der Tonbandveröffentlichungen, die Gülenisten, vor der Kommunalwahl am 30. März wohl aufgehoben haben. Oben auf der Gerüchteliste stehen Sexvideos oder Enthüllungen darüber, dass der Tod des islamistisch-nationalistischen Politikers Mushin Yazıcıoğlu im März 2009 kein Unfall gewesen sei, sondern ein – womöglich von höchster Stelle angeordneter – Mord. Mit der jüngsten dürfte die Regierung bezwecken, vor dem großen Finale den Fluss von Informationen aus Twitter in den Rest der Gesellschaft soweit wie möglich zu drosseln oder zumindest zu verlangsamen.
Und womöglich will Erdoğan noch etwas anderes: Proteste provozieren. Schon kursieren unter dem Hashtag #TwitterİcinSokağaCıkıyoruz Aufrufe zu Demonstrationen, bereits nach der ersten Ankündigung hatten User geantwortet: „Dann gehen wir halt auf die Straße.“ Genau das aber könnte Erdoğan wollen, um sodann, unter dem Eindruck neuer Ausschreitungen, vor der Wahl die eigenen Anhänger um sich zu scharen. Denn unter einem Teil von ihnen herrscht infolge der Korruptionsvorwürfe Irritation, ob sie nun einen Twitter-Account haben oder nicht.
Weltweit die meisten Twitter-User gibt es übrigens in China. Zugleich ist China das einzige Land der Welt, in dem Twitter gesperrt ist. In Pakistan ist es erlaubt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen