Bodycount Türkei: Für Europa erschreckend viel
Wie viele Menschen sind seit Beginn der Proteste in der Türkei gestorben? Die Antwort hängt auch von politischen Bewertungen ab. Ein Überblick.
Berkin Elvan und die beiden Männer, die in der vergangenen Woche starben, sind seit Beginn der Proteste in der Türkei Ende Mai vorigen Jahres die – ja, die wie vielten Todesopfer? Nun, es kommt darauf, wie man zählt. Und bei einigen ist es eine politische Frage, ob man sie berücksichtigt. Dies gilt für folgende Personen (für Fotos auf die Namen klicken).
Ahmet Küçüktağ, 30, 12. März 2014: Der Polizist erleidet bei Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei in der kurdisch-alevitischen Stadt Tunceli einen Herzinfarkt. Er soll nicht Tränengas ausgesetzt gewesen sein. In ersten Reaktionen meint ein Teil der Gezi-Bewegung, dass auch ihn der Staat auf dem Gewissen habe; andere meinen hingegen, man müsse zwischen Täter und Opfer unterscheiden.
Hasan Ferit Gedik, 21, 29. September 2013: Der Aktivist der linken Gruppe „Volksfront“, die der bewaffneten Organisation DHKP-C nahe steht, wird im Istanbuler Armenviertel Gülsuyu am Rand einer Demonstration von einer Drogenbande erschossen. Ein Teil der Gezi-Bewegung zählt ihn dazu, weil weil sie den Staat beschuldigen, sich dieser krimineller Banden zu bedienen, um aufständische alevitische Viertel wie Gülsuyu zu bändigen.
Medeni Yıldırım, 18, 28. Juni 2013: Der Schüler wird in einem Dorf im südostanatolischen Landkreis Lice bei einem Protest gegen den Bau einer Kaserne von Angehörigen der Gendarmerie erschossen. Einige Nationalisten unter den Gezi-Leuten gilt er „PKK-Terrorist“. Die meisten aber solidarisieren sich mit ihm. Gegen den Schützen findet unter Geheimhaltung ein Prozess statt.
Mustafa Sarı, 27, 5. Juni 2013: Der Polizist stürzt in Adana von einer Brückenbaustelle, als er mit seiner Einheit Demonstranten verfolgt. Auch bei ihm ist die Protestbewegung gespalten.
Hinzu kommen folgen Personen, die mutmaßlich durch den exzessiven Gebrauch von Tränengas starben:
//serdar:Serdar Karakal, 35, 13. September 2013: Der Tontechniker lebt und arbeitet im Stadtteil Kadıköy, dem Zentrum des anatolischen Teils von Istanbul. Als Mitte September tagelang in seinem Viertel Auseinandersetzungen toben, erleidet der Herzkranke einen Infarkt.
Selim Önder, 88, 16. Juni 2013: Der Musiker ist am 31. Mai, dem Tag, an dem die Gezi-Proteste zu einem Massenaufstand ausweiten, auf der Straße und in seiner in der Nähe des Taksimplatzes gelegenen Wohnung extremen Mengen Tränengas ausgesetzt. Er bekommt Atemschwierigkeiten, in deren Folge er verstirbt.
Zeynep Eryaşar, 55, 15. Juni 2013: Sie erleidet am Tag der Räumung des Gezi-Parks bei einer Demonstration in der Istanbuler Trabantenstadt Avcılar einen Herzinfarkt – je nach Darstellung durch Tränengas oder infolge einer Panikattacke.
Irfan Tuna, 47, 5. Juni 2013: Der herzkranke Tuna arbeitet als Putzkraft in einer Schule in der Nähe des zentralen Kızılay-Platzes in Ankara. Er stirbt infolge des Tränengases an Herzversagen.
Dann gibt es jene, bei denen der Fall klar ist. Die folgenden stammen alle – ebenso wie Gedik und Eryaşar – aus der alevitischen Minderheit:
Berkin Elvan, 15, 11. März 2014: Der Schüler ist auf der Straße, um Brot zu kaufen, als er nach der Räumung des Gezi-Parks im mehrheitlichen alevitischen Istanbuler Viertel Okmeydanı von einer Tränengaspatrone getroffen wird. Nach neun Monaten im Koma und abgemagert auf 16 Kilogramm und stirbt er. Sein Tod löst eine neue Welle von Protesten aus.
Ahmet Atakan, 23, 10. September 2013: Der Student und Mitglied der linken Gruppe Halkevleri kommt in Armutlu, einem Viertel der südtürkischen Stadt Antakya, unter ungeklärten Umständen ums Leben. Die Behörden gehen davon aus, dass er von einem Hausdach gefallen sei und verweisen auf ein Video, das zeigt, wie ein lebloser Körper zu Boden fällt. Die Umstände des Sturzes sind dort jedoch nicht zu sehen. Augenzeugen berichten, dass Ahmet von einer Tränengasgranate getroffen worden sei.
Ali Ismail Korkmaz, 19, 10. Juli 2013: Der Student erliegt nach 37 Tagen im Koma seinen schweren Kopfverletzungen. Er war am 2. Juni in der nordwesttanatolischen Stadt Eskişehir von einer Gruppe von Zivilisten und Polizisten in eine Seitengasse verprügelt worden. Ein Polizist ist wegen Mordes angeklagt, drei weitere und vier Zivilisten wegen Beihilfe. Ali Ismail stammte ebenfalls aus Antakya.
Ethem Sarısülük, 26, 14. Juni 2013: Der Schlosser, der dem illegalen, jedoch nicht bewaffneten Bund Revolutionärer Kommunisten der Türkei (TİKB) nahestand, erliegt nach zwei Wochen im Krankenhaus seinen Schussverletzungen. Er war am 1. Juni bei Auseinandersetzungen im Güven-Park in Ankara von einem Polizisten aus nächster Nähe erschossen worden. Gegen den Schützen läuft ein Verfahren wegen Totschlags. Er ist weiterhin im Polizeidienst.
Abdullah Cömert, 22, 3. Juni 2013: Der Wachmann und Mitglied der größten Oppositionspartei, der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP, wird bei Protesten in Antakya-Armutlu in einer Seitengasse von einer Tränengaspatrone am Hinterkopf getroffen. Monate später räumen die Behörden diese Todesursache ein. Die Ermittlungen dauern an.
//conflictbase.com/events/media/photos/1370362264.jpg:Mehmet Ayvalıtaş, 20, 2. Juni 2013: Der Kellner und Aktivist der Sozialistischen Solidaritätsplattform (Sodap) gehört zu einer Gruppe von einigen hundert Leuten, die die Stadtautobahn bei Istanbul-Ümraniye blockieren wollen und wird dabei von einem Auto erfasst. Fahrer und Beifahrer sind wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.
Schließlich gibt den ersten Toten, der ohne Beteiligung der Polizei ums Leben kam:
Burak Can Karamanoğlu, 22, 12. März 2014: Das Mitglied des Fußballfanclubs „Kasımpaşa 1453“ wird am Abend von Berkins Beerdigung erschossen. Nach bisherigem Kenntnisstand gehört er zu einer teilweise mit Knüppeln bewaffneten Gruppe, die aus dem Stadtteil Kasımpaşa, woher Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan stammt, in Berkins Viertel Okmeydanı zieht. Die DHKP-C hat inzwischen erklärt, sie habe ihn aus „Notwehr“ erschossen. Außer den Polizisten ist er der einzige, bei dessen Familie Erdoğan kondoliert hat.
Insgesamt sind dies 15 Tote. Deutlich weniger als beispielsweise in Ägypten. Aber erschreckend viele gemessen an den Maßstäben, an denen sich die Türkei offiziell messen lassen will.
Von taz-Redakteur Deniz Yücel ist gerade im Nautilus-Verlag erschienen: „Taksim ist überall – Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei“
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