Widerstand gegen Große Koalition: Genossen im Dilemma
Am Freitag will die SPD auf ihrem Konvent entscheiden, ob sie unter Merkel mitregieren will. An der Basis wächst der Widerstand.
BERLIN/BOCHUM taz | Der Ärger, der an der SPD-Basis beim Gedanken an eine Große Koalition im Bund aufkommt, ist riesig. „Wir bekommen Mails und Anrufe, in denen Genossinnen und Genossen mit Parteiaustritt drohen“, sagt Franz-Josef Drabig, Vorstandsvorsitzender des Unterbezirks Dortmund mit 9.000 Mitgliedern. „Andere wollen sich dann aus der Parteiarbeit zurückziehen. Die kündigen innerlich.“
Angekommen ist der Ärger auch in der Landeshauptstadt Düsseldorf: „Aus dem ganzen Land kommen Austrittsdrohungen“, sagt ein Sprecher der Landtagsfraktion – „und das sind nicht wenige.“
Für Genossen wie Drabig ist deshalb klar: Eine Große Koalition mit der Union geht gar nicht. Egal ob Mindestlohn, Spitzensteuersatz oder das Aus für das Betreuungsgeld: „Nichts aus unserem Wahlprogramm wäre vollständig umsetzbar.“
Der neue Bundestag muss spätestens 30 Tage nach der Wahl zusammentreffen, also am 22. 10. Dann verlieren die alten Abgeordneten ihr Mandat. (Art. 39 Abs. 2).
Dann verlieren auch die Bundeskanzlerin und -minister ihr Amt (Art. 69 Abs. 2). Normalerweise wählt der Bundestag nun auf Vorschlag des Bundespräsidenten eineN KanzlerIn (Art. 63 Abs. 1). Die Minister werden dann vom Bundespräsidenten auf Vorschlag des/der KanzlerIn ernannt (Art. 64 Abs. 1).
Sind die Koalitionsverhandlungen noch nicht abgeschlossen, wartet der Bundespräsident mit seinem Vorschlag und bittet die bisherige Regierung, geschäftsführend im Amt zu bleiben. Dieser Bitte müssen sie entsprechen (Art. 69 Abs. 3). Es kann also sein, dass die FDP-Minister länger im Amt bleiben als die FDP-Abgeordneten.
Diese Regelungen sichern die Handlungsfähigkeit der Bundespolitik. Der neu gebildete Bundestag kann auch unaufschiebbare Gesetze beschließen, bevor die neue Regierung im Amt ist.
Der Bundespräsident kann mit seinem Kanzler-Vorschlag warten, bis die Koalitionsverhandlungen abgeschlossen sind. Eine Frist hierfür besteht nicht. Wird er ungeduldig, kann er auch nach eigenem Ermessen eine Person als Kanzler vorschlagen. Wird die nicht gewählt, kann dies zu Neuwahlen führen. (chr)
Heftiger Protest gegen ein Bündnis mit der Union kommt aus vielen Teilen des Landes. „Für Nordrhein-Westfalen kommt die Große Koalition nicht infrage“, sagt der Hammer SPD-Chef Dennis Kocker – und redet über die Bürgerkrankenversicherung, die mit Merkel „niemals“ umsetzbar wäre, auch über die vor der Pleite stehenden Kommunalhaushalte, denen der Bund immer neue Aufgaben und Ausgaben aufgebürdet habe.
„Schon heute kommen Leute auf mich zu und sagen: Wenn ihr eure Inhalte nicht umsetzen wollt, kann ich ja gleich die Linken wählen“, berichtet Drabig. Die Partei wolle „auf keinen Fall den kleinen Teil an Glaubwürdigkeit, den wir uns in den letzten vier Jahren erarbeitet haben, wieder aufs Spiel setzen“, warnt deshalb auch der Recklinghäuser SPD-Kreisvorsitzende Frank Schwabe, der mit guten 45,2 Prozent am Sonntag zum dritten Mal in den Bundestag gewählt worden ist.
„Opposition im Bund ist keine Schande“
Wie Drabig und Kocker fordert Schwabe einen Mitgliederentscheid. Erst soll versucht werden, möglichst große Teile des SPD-Wahlprogramms in Verhandlungen mit der übermächtigen Union durchzusetzen – und dann soll jede Genossin, jeder Genosse abstimmen, ob das Ergebnis für ein Bündnis reicht.
Hannelore Kraft, Landes-SPD-Chefin und Ministerpräsidentin, kennt die Stimmung an der Basis. Opposition im Bund sei „keine Schande“, verkündete sie bereits am Montag. Sie weiß, dass ein Mitgliederentscheid die gesamte Parteiführung blamieren könnte: Wenn die SPD-Spitze die Sondierung mit der Union für erfolgreich hält, die Basis aber trotzdem Nein sagt, wäre das ein beispielloses innerparteiliches Misstrauensvotum.
In einem von Kraft maßgeblich mitgestaltetem Beschluss des NRW-Parteivorstands ist deshalb von einem Mitgliederentscheid keine Rede. Blumig wird stattdessen nur eine „breite Beteiligung der Gremien und Mitglieder an möglichen Entscheidungsprozessen“ versprochen.
Gegen Hannelore Kraft und die anderen Chefs der rot-grün regierten Landesverbände kann die Parteispitze nichts durchsetzen. Und deren Widerstand wächst. Neben Nordrhein-Westfalen gehen auch Bremen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz auf die Barrikaden. Bayerns SPD-Chef Florian Pronold fordert, anders als Kraft, „zwingend eine Mitgliederbefragung“.
Kein Steigbügelhalter der Union
Genossen haben eigens eine Homepage eingerichtet, um Unterschriften „Gegen Schwarz-Rot“ zu sammeln. Unter dem SPD-Wahlkampfmotto „Das WIR entscheidet“ plädieren sie dafür, nicht erneut „der Steigbügelhalter“ für die Union zu werden und das Wahlprogramm zu verraten.
Der auch von den Jusos und der SPD-Linken geforderte Mitgliederentscheid würde den parteiinternen Druck zweifellos erhöhen, der Union möglichst weitgehende Zugeständnisse abzuringen. Aber solch ein Entscheid ist auch ein riesiger Aufwand: mindestens ein Fünftel der 472.000 Mitglieder müsste sich beteiligen. Eine aufgeladene Situation also.
Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel steht vor einer höchst komplizierten Aufgabe. Er muss seine Basis befrieden und trotzdem ganz dezent mögliche Machtoptionen erkunden. Und zwar so, dass weder die Genossen Verrat wittern noch die Union auf den Gedanken kommt, die Sozialdemokraten seien geschwächt und ließen sich über den Tisch ziehen.
Die Optionen der SPD sind dabei schmerzhaft begrenzt. Der als eigenes Ziel formulierte Politikwechsel mit den Grünen ist gefloppt. Schwarz-Gelb, gegen das man kräftig hätte Opposition machen können, ist nach dieser Wahl mangels FDP vom Tisch. Die absolute Mehrheit hat die Union mit nur fünf Mandaten verpasst.
Neuwahlen könnten Wähler nerven
Und Rot-Rot-Grün hat die SPD im Wahlkampf immer wieder ausgeschlossen. Noch am Dienstag erklärte Generalsekretärin Andrea Nahles am Rande der Fraktionssitzung im Reichstag, man werde mit der Linkspartei in den kommenden vier Jahren kein Bündnis eingehen.
Auch auf Neuwahlen darf die SPD nicht setzen. Die in den letzten Wochen medial maximal genervten Wähler würden den Sozialdemokraten die Schuld für einen erneuten Wahlgang in die Schuhe schieben und entsprechend abstimmen. Zudem wäre zu befürchten, dass FDP und AfD es ins Parlament schaffen. Dann könnten einige der 192 SPDler ihre Abgeordnetenbüros gleich wieder räumen.
Bleibt nur die Große Koalition. Aber wie soll die SPD-Führung die hinkriegen, ohne von ihren Mitgliedern blamabel zurückgepfiffen zu werden? Es gibt zwei Möglichkeiten: Sie schafft es, den Mitgliederentscheid zu verhindern. Oder sie treibt bei Merkel den politischen Preis dermaßen hoch, dass auch die Mitglieder den ausgehandelten Koalitionsvertrag, wenn auch grummelnd, abnicken können.
Ein erster Schritt ist der Parteikonvent am Freitagabend in Berlin. 200 GenossInnen und der Parteivorstand kommen im Willy-Brandt-Haus zusammen. Viele erinnern sich noch zu gut an die Wahlklatsche 2009, nach vier Jahren Großer Koalition. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer, die Rente mit 67, die Föderalismusreform hatten CDU und SPD zwar gemeinsam beschlossen. Gebüßt hat jedoch nur die SPD: Absturz von 34 auf 23 Prozent. Ein Trauma.
Parteichef Gabriel beschwört Einigkeit
Damit die SPD-Mitglieder nicht das Gefühl haben, in Berlin finde eine Abnickveranstaltung statt, hat Parteichef Sigmar Gabriel ihnen am Mittwoch einen Brief geschrieben. Er beschwört darin die Einigkeit der Partei im zurückliegenden Wahlkampf und betont, es gebe „für die SPD weder einen Automatismus zur Bildung einer Koalition mit CDU/CSU, noch werden wir uns in irgendeiner Form dazu drängen lassen“. Von einem Mitgliederentscheid über einen Koalitionsvertrag schreibt er nichts.
Beim Konvent wird es also auf Fingerspitzengefühl ankommen. Und auf Verfahrensfragen. Würde ein entsprechender Vorschlag des Vorstands angenommen, könnte die SPD-Spitze mit der Union erste Sondierungsgespräche führen.
Der Konvent würde formal nur unterbrochen – und die rund 200 Delegierten später zu einer Entscheidung über Koalitionsverhandlungen erneut zusammengerufen. Fragt sich, wann. Denn Mitte November findet in Leipzig der Bundesparteitag statt. Bis dahin müsste sich Angela Merkel also mindestens gedulden.
Die Genossen an der Basis wollen dennoch gegen Schwarz-Rot kämpfen. „Berlin kann Nordrhein-Westfalen bei der Frage einer Großen Koalition nicht einfach übergehen“, sagt der Hammer SPD-Chef Kocker, der bei den Kommunalwahlen im kommenden Jahr Oberbürgermeister werden will.
Die Warnung vor Neuwahlen stört ihn nicht: „Ich bin nicht dafür da, die FDP zu verhindern – ich will Inhalte der SPD umzusetzen.“ Auch der mächtige Dortmunder Drabig wird deutlich: „Wir reißen uns hier in Wahlkampf nicht den Arsch auf, damit irgendwelche Leute später mit dicken Dienstwagen herumfahren dürfen.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Demokratie unter Beschuss
Dialektik des Widerstandes
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück