Debatte Psychostress am Arbeitsplatz: Ackern auch mit Depression
Gewerkschaften und Oppositionsparteien fordern Anti-Stress-Verordnungen. Doch die Präventionsschancen sind in unserer Gesellschaft sehr ungleich verteilt.
![](https://taz.de/picture/158210/14/Lehrerin_Schule_dpa_04112012.jpg)
D ie Deutsche Gesellschaft für Personalführung hat sich in einem Leitfaden seelischer Krisen angenommen. Wie erkennt eine Führungskraft, dass ein Mitarbeiter abdriftet? „Demonstrativer sozialer Rückzug“, „vorschnelles verbales Angreifen von Kollegen“, „extreme Veränderungen im Kleidungsstil“ sind neben schlechteren Leistungen und anderen Anzeichen Symptome, dass jemand aus dem Arbeitsprozess herausrutschen könnte.
Die Sorge um teure Ausfälle von Beschäftigten wegen psychischer Erkrankungen hat auch die Personalabteilungen erreicht.
Gewerkschaften und Oppositionsparteien nehmen sich gleichfalls des Themas an und fordern Anti-Stress-Verordnungen für Betriebe. Kämen solche Verordnungen, hätten Betriebsräte ein größeres Mitspracherecht bei Arbeitsplatzgestaltung, Aufgabenmenge und Arbeitszeiten. Das wäre zu begrüßen.
Denn es ist dringend nötig, sich über Prävention mehr Gedanken zu machen. Psychisch Erkrankte fehlen dreimal so lange wie körperlich Malade, nämlich im Schnitt 39 Tage. Und Frühverrentungen wegen Arbeitsunfähigkeit sind teuer. Erwerbstätige möglichst in der Arbeitswelt zu halten, ist eine gesellschaftliche Aufgabe geworden, die nichts mit Ausbeutung zu tun hat, sondern mit Teilhabe.
„Diagnosenverschiebung“
Die steigende Zahl von Psychodiagnosen ist dabei nicht unbedingt ein Beweis, dass die Belastungen im Job tatsächlich zugenommen haben. Die Frühverrentungen aufgrund von Psychodiagnosen nehmen zwar zu, jene aufgrund von körperlichen Diagnosen gehen jedoch zurück.
Psychiater sprechen daher von einer „Diagnosenverschiebung“ vom Körperlichen ins Seelische. Das Leiden, das Nichtfunktionieren in der Arbeitswelt wird heute eher etwa über die Diagnose einer Depression oder Angsterkrankung abgebildet und weniger über den Befund von Rückenbeschwerden oder Magengeschwüren.
Wir können aber vom jahrzehntelangen Umgang mit körperlichen Belastungen und Beschwerden im Arbeitsschutz lernen, wenn es um die Bewältigung seelischer Probleme geht. Bei den körperlichen Belastungen gibt es eine Doppelstrategie: Einmal muss der Verschleiß verringert werden. Zum Zweiten aber sollten die Beschäftigten eine Tätigkeit finden, die zur Belastbarkeit passt.
Übertragen auf den seelischen Stress bedeutet dies: Überforderungen auf manchen Arbeitsplätzen gilt es zu reduzieren – gleichzeitig aber müssen die Jobs auch zu den persönlichen Dispositionen der Beschäftigten passen. Nicht nur die Arbeitsplätze weisen psychische „Gefährdungen“ auf, auch die Individuen selbst haben unterschiedliche Labilitäten.
Kein Ausweichen möglich
Der Berliner Psychiater Michael Linden weist darauf hin, dass 14 Prozent der Bevölkerung Angst davor haben, vor einer Gruppe zu sprechen. 13 Prozent fürchten sich, einen vollen Raum zu betreten. 10 Prozent geraten unter Stress, wenn sie mit Autoritäten reden müssen.
Diese Dispositionen können eine Rolle spielen, wenn in einem Job Kundenpräsentationen nötig sind, der Arbeitsplatz in einem Großraumbüro liegt und dann noch zu viel Druck durch schlechte Führung dazu kommt.
Rückzug nicht immer möglich
Die Aufgabe besteht darin, sich trotz und mit den Labilitäten in der Erwerbswelt zu halten. Im Lehrer-Job zum Beispiel kann man sich nicht mal eben innerlich zurückziehen, wenn man vor einer Klasse steht. Es gibt LehrerInnen, die keine Klassenfahrten mehr begleiten – und zwar nicht aus Bequemlichkeit: Nicht selten haben die Pädagogen eine depressive Phase hinter sich. LehrerInnen können ihre Belastungen ansonsten nur über eine Verringerung der Stundenzahl vermindern.
Oft bezahlen die Fachkräfte ihre Stressentlastung selbst. Befragungen in Pflegeheimen zeigen, dass die dort arbeitenden Frauen unter chronischem seelischen Stress leiden, weil sich die Turbo-Abfertigung nicht mit ihrem Menschenbild in Einklang bringen lässt.
Da der Krankenstand unter dem Pflegepersonal hoch ist, machen die Arbeitgeber vielerorts nur noch 30-Stunden-Verträge mit entsprechend geringerem Ausfallrisiko. Die Beschäftigten zahlen dafür mit niedrigerem Monatslohn und später dann geringerer Rente.
Besserung nur mit Betriebsrat
Gewerkschaften, SPD, Grüne und Linke wollen Anti-Stress-Verordnungen, die vor allem präventiv wirken. Käme dies, hätten Betriebsräte mehr Mitsprache, um Arbeitsplätze mit zu hoher Aufgabenmenge und anderen Überforderungen gezielt anzuprangern und zu verbessern. Solche Verordnungen würde allerdings vor allem in Firmen greifen, die ohnehin schon gut aufgestellt sind und über starke Betriebsräte verfügen.
Die IG Metall verweist als „Best practice“-Beispiele für Stressprävention etwa auf die Aufzugfirma Otis in Mannheim und den Sensorproduzenten Sick in Waldkirch.
In diesen Betrieben wurde im Rahmen von stressreduzierenden Maßnahmen in bestimmten Abteilungen das Personal aufgestockt. So was ist teuer. Die Beschäftigten in unterfinanzierten Dienstleistungsbranchen können von solch einer Entlastung nur träumen.
Fair verteilt sind die Präventionschancen also nicht. Fair ist auch nicht der Ausschluss von Hunderttausenden, die nicht mehr mithalten können: Sachbearbeiter in den Jobcentern berichten, dass sich unter der Hartz-IV-Klientel immer mehr psychisch Labile befinden.
Angepasste Beschäftigung
Eine neue Anti-Stress-Verordnung im Arbeitsschutzgesetz, die auch mehr Gewicht auf die Wiedereingliederung von psychisch Labilen legt, ist zu begrüßen. Die Jobcenter müssten zudem mehr Beschäftigungsmaßnahmen für seelisch Erkrankte anbieten.
Und nicht zuletzt müssen die Löhne in superstressigen Dienstleistungsbranchen wie der Pflege steigen, damit eine Arbeitszeitreduzierung möglich ist.
Man weiß heute ziemlich viel über seelische Überlastungen. Ob man dieses Wissen anwendet, um Leute in Beschäftigung zu halten, oder ob man die Probleme über individuelle Krankengeschichten entsorgt, ist eine politische Frage. Das Leid kommt jedenfalls nicht von der Arbeit, wenn der Job passt.
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