: Der Sinn eines Menschen
Erst ist da nur das Nachlassen der Körperkraft, kurz darauf sitzt Rüdiger Köhler schwer krank im Rollstuhl. Einziger Hoffnungsstrahl: eine Stammzellenbehandlung in Kiew, Ukraine
von CORNELIA KURTH
„Mach mal die Wand kaputt! Heb du mal das schwere Teil da auf!“ Vor anderthalb Jahren war der Bauarbeiter Rüdiger Köhler aus dem Schaumburger Land noch ein bärenstarker Mann, der vor keiner noch so schweren Arbeit zurückschreckte, ein geradliniger Freund und Kumpel, immer ansprechbar, wenn die Familie oder Freunde die Hilfe seiner Körperkraft brauchten. Es war schon sehr eigenartig, dass dieser starke, lustige Kerl plötzlich in grüblerisch schlechte Laune verfiel. Erst verriet er niemandem, dass er sich schwach fühlte, ungewohnt und furchterregend schwach. Er kriegte die Schubkarre nicht mehr schwungvoll hoch, er fiel beim Tapezieren steif von der Leiter und knackte mit den Beinen weg beim Einsteigen in den Lkw. Irgendetwas war ganz und gar nicht okay.
Ihre Arbeit, die können Sie für immer vergessen! Reichen Sie mal schnell Ihre Rente ein. Je schneller, desto besser, damit Sie noch was davon haben.“ Ärzte sind oft grausam, wenn sie nichts, aber auch gar nichts machen können. Als Rüdiger Köhler zusammen mit seiner Frau und dem Schwager in einer ostwestfälischen Klinik vorspricht, kann er sich nicht allein auf den Beinen halten, seine Arme sind wie gelähmt, er spricht mühsam und vernuschelt, und die Ärzte scheinen ihn schon jetzt als jämmerliches Bündel auf dem Totenbett liegen zu sehen.
„Wenn ich in den Rollstuhl komm, nehm ich den Strick!“, sagt er trotzig. Wenige Tage später schon hängt er schräg im Rollstuhl, und ihm bleibt nur noch Galgenhumor: „Tja, zu spät …!“ Noch einmal vier Wochen darauf ist aus dem vitalen, gerade vierzigjährigen Mann endgültig ein fast bewegungsunfähiger Kranker geworden, der sich kaum noch verständlich machen kann. „Ein Jahr noch, höchstens“, meinte die Neurologin kühl. Diagnose: „Amyotrophe Lateralsklerose“.
ALS, das ist eine seltene Erkrankung des motorischen Nervensystems, unter der in Deutschland aktuell etwa viertausend Menschen leiden. Ursache unbekannt, Lebenserwartung zwischen einem bis höchsten zehn Jahre nach Ausbruch der Krankheit. Die Krankheit führt zu Muskelschwäche und Muskelschwund, sie löst Zuckungen und schmerzhafte Krämpfe aus und führt schließlich zum Tod durch Ersticken.
Es gibt keine Behandlung, die eine Amyotrophe Lateralsklerose zum Stillstand bringen oder gar heilen könnte. Krankengymnastik kann die Symptome mildern, Medikamente können den spastischen Muskeltonus vermindern, Muskelkrämpfe lindern, die ständige Speichelsekretion verringern. „Es tut uns Leid, etwas anderes können wir Ihnen nicht sagen“, heißt es aus der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke.
Rüdiger Köhler hängt verkrümmt im Rollstuhl und hat nur noch wenige Monate zu leben. Es macht ihm nichts mehr aus. Alles, was er war und was er konnte, spielt keine Rolle mehr. Er ist gelernter Schlachter, der als junger Mann im riesigen Schlachthof von Arnstadt in der DDR Rinder, Kühe, Pferde und Lämmer schlachtete und verwurstete. Als er 1989 mit seiner zierlichen Frau Heike und zwei kleinen Töchtern nach Westdeutschland kam, in die Grafschaft Schaumburger Land, da gab es keine Pause, kein Innehalten. Schon am Tag nach der Ankunft begann er in einer Fleischwarenfabrik als Schlachter und Ausfahrer, im Nachtdienst mit Überstunden. Es musste ja rangeklotzt werden, denn aus der alten DDR-Existenz hatte die Familie nur ein paar Koffer voll Utensilien herübergerettet.
Bald wechselte er zu einer Baufirma, wo sie den starken Kerl gern nahmen und ihm den Titel „Bestes Pferd im Stall“ gaben. „Der ging auch noch mit dem Kopf unterm Arm zur Arbeit“, sagt sein Schwager Jan. „Er hat immer angepackt, von morgens bis abends“, ergänzt seine Frau. Es ist schrecklich, tatenlos zusehen zu müssen, wie dieser Kraftmensch bei vollem Bewusstsein körperlich zugrunde geht.
Gibt es wirklich keine Rettung? Doch, vielleicht. In Kiew, heißt es in einem Zeitungsartikel, den die 19-jährige Tochter entdeckt hat, werden ALS-Kranke schon seit vier Jahren erfolgreich mit embryonalen Stammzellen behandelt. Die in Deutschland so heftig geführte Diskussion um die ethischen Implikationen einer möglichen Zulassung dieser Methode ist in der Ukraine kein Thema. Und auch Familie Köhler will sich jetzt bestimmt nicht mit irgendwelchen allgemeinen moralischen Bedenken befassen. Professor Alexandr Smikodub hat schon Querschnittsgelähmte zum Laufen gebracht, MS-Patienten gerettet, Alzheimer aufgehalten und das Leben manches ALS-Kranker entscheidend verbessert und verlängert. Das jedenfalls steht in den E-Mails, die Schwager Jan auf Englisch mit der ukrainischen Klinik tauscht. Dass viele Fachleute diese Erfolge für einen vorübergehenden Placeboeffekt halten und Professor Smikodub für einen verantwortungslosen Scharlatan, ist egal. „Und wenn es so wäre?“, fragt Ehefrau Heike. „Wir haben nichts mehr zu verlieren.“
Die Schaumburger Lokalzeitung unterstützt eine private Spendenaktion und veröffentlicht ein bewegendes Foto, das Rüdiger Köhler mit seinem gerade geborenen Enkelsohn zeigt: Fünftausend Euro kommen zusammen. Die gleiche Summe kann zinslos von Freunden geliehen werden, den Rest der insgesamt benötigten zwanzigtausend Euro erwartet die Klinik nach und nach in gemäßigten Ratenzahlungen, und ein einheimischer Finanzunternehmer, Ehrenkonsul von Kasachstan, gibt im letzten Moment noch einen Reisekostenzuschuss von tausend Euro, damit die drei sich wirklich aufmachen können zu einer abenteuerlichen Reise Richtung Osten.
Es ist schwer, es ist fast zum Verrücktwerden. Das Flughafenpersonal will den umständlichen Transport des Rollstuhls ins Flugzeug beschleunigen und fasst den kranken Mann falsch an. Der Behindertensitzplatz befindet sich in der Businessklasse und muss von Schwager Jan mit lauten, harten Worten erobert werden. Und dann, als sie über Russland schließlich in die Ukraine einreisen wollen, stellt sich heraus, das sie ein Extravisum gebraucht hätten. Da standen sie nun und sollten umkehren.
750 Euro kostet nach langwierigen Verhandlungen schließlich ein vor Ort ausgestelltes Visum, pro Person. So viel Geld haben sie gar nicht dabei. Schließlich erlöst sie ein Anruf in der Klinik, die einen Teil der Kosten vorläufig übernimmt und auf die sowieso schon horrende Rechnung setzt. Neben dem schlichten Krankenbett hängt an einem roten Band eine Plastiktrillerpfeife an der Wand: die Schwesternklingel. Rüdiger Köhler kann sie nicht benutzen in den drei Tagen, in denen er die Stammzellenlösung injiziert bekommt. Aber seine Frau und sein Schwager sind bei ihm und der Professor.
„Der Professor war sehr nett. Ich hatte Vertrauen zu ihm.“ Das sind Worte, die Rüdiger Köhler höchstpersönlich spricht, so ausspricht, dass man sie verstehen kann. Er sitzt wieder aufrecht in seinem Rollstuhl, ohne Schmerzmittel. Er kann den Kopf und die Arme bewegen, er lacht, und es ist kein so genanntes Zwangslachen, er lacht wieder. Von Tag zu Tag bessert sich sein Zustand.
Ob das so bleibt, weiß niemand. Nur die Schulden bleiben, die Ratenzahlungen an die Klinik stehen aus, und irgendwann müsste eine neue Behandlung erfolgen, die selbst bei weiter positivem Verlauf keine Krankenkasse zahlen wird. Doch jetzt ist erst mal Atempause. Zum ersten Mal seit einem Jahr.
Nachtrag: Wie schnell ist dieses „Jetzt“ vorbei. Knapp drei Monate sind vergangen, und Rüdiger Köhler ist so krank wie zuvor. Todkrank. „Kommen Sie nur! Wir behandeln Sie umsonst“, schreibt der Professor aus Kiew. Das ist nett, aber wer zahlt die Reisekosten von mindestens fünftausend Euro? Das DRK Schaumburg, beeindruckt von diesem Krankheitsfall, stellt gegen seine Gewohnheit Spendenquittungen aus, aber wer spendet jetzt noch? Und wer würde drei Monate später wieder spenden? Schwager Jan zuckt hilflos mit den Schultern: „Der Sinn eines Menschen ist doch das Leben“, sagt er. „Wir können nicht aufgeben.“ Aber er weiß nicht mehr, was das bedeuten soll.
CORNELIA KURTH, Jahrgang 1960, lebt als freie Autorin in Rinteln
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