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Dienstreise ins Nichts

Mit kaltem Blick auf die Wirtschaftswelt: Laurent Cantet schildert in seinem Film „Auszeit“, wie ein Manager sein Leben in der Arbeitslosigkeit lebt und seine Familie über den Stand der Dinge belügt

von HARALD PETERS

Vincent hat eine Frau und zwei Kinder, jeden Morgen geht er zur Arbeit aus dem Haus. Denn Vincent ist ein fleißiger Mann, immer pünktlich, immer engagiert. Er kümmert sich sogar dann um seine Arbeit, wenn es gar keine Arbeit für ihn gibt – schon vor geraumer Zeit wurde Vincent, der Consultant, von seiner Firma aus seinem Arbeitsvertrag entlassen.

Seiner Familie erzählte Vincent davon allerdings nichts, weshalb er nun damit beschäftigt ist, sie im Glauben seiner Vollbeschäftigung zu lassen. Also setzt er sich nach dem Frühstück in sein Auto und fährt umher; singt zum Autoradio, liefert sich Wettrennen mit der Bahn, tankt. Und er telefoniert mit seiner Frau. Er erkundigt sich nach den Kindern und sagt, dass es später werden könne. Er sagt, dass sie mit dem Essen nicht auf ihn warten solle, er habe Termine, Termine, Termine, die Arbeit wachse ihm noch über den Kopf. Irgendwann wächst sie ihm auch über den Kopf, weshalb er seiner Familie bald erzählt, er habe den Job als Consultant gekündigt, denn die Arbeit sei ihm letztlich über den Kopf gewachsen. Doch nun habe er eine Stelle bei den Vereinten Nationen, nicht weit entfernt in der nahen Schweiz.

Bei den Vereinten Nationen weiß man von Vincent freilich nichts. Und so wenig, wie die Vereinten Nationen jemals von Vincent erfahren werden, erfährt der Zuschauer, was Vincent eigentlich treibt. Auch Vincent scheint nicht zu wissen, was ihn treibt, er treibt nur so dahin, halb bewusstlos, halb pflichtbewusstlos die einschlägigen Broschüren studierend, die ihm verraten, worum es bei seinem Job bei den Vereinten Nationen eigentlich geht.

Angelehnt an den Fall des Jean-Claude Romand, eines angesehenen Arztes der Weltgesundheitsorganisation, der im Jahre 1993 seine Frau, die Kinder und die Schwiegereltern ermordete, als sein Schwindel, erfolgreicher Arzt der Weltgesundheitsorganisation zu sein, aufzufliegen drohte, folgt Regisseur Laurent Cantet in seinem Film „Auszeit“ der Logik einer Lüge. Bei dem Fall Vincent scheint sie aus Fahrlässigkeit zu entstehen, doch um sie zu halten, muss er sie mit weiteren Zusatzlügen füttern, so dass sie schließlich wächst und wächst und zu einer Lebenslüge wird, die seine Existenz bestimmt. Wie jeder talentierte Lügner glaubt Vincent dabei seinen Lügen selbst.

Doch Regisseur Cantet kümmert sich in „Auszeit“ weniger um den Lügner Vincent an sich, sondern vielmehr um die Strukturen, die jemanden wie Vincent produzieren. Um die Gattin, die sich um die finanzielle Sicherheit der Familie sorgt; um den Vater, der mit der Karriere seines Sohnes prahlt; und um die Kinder, die in Vincent nur den erfolgreichen Vater sehen. Er zeigt auch die Banker, Consultants und Geschäftsleute, die in ihren gläsernen Büros sitzen, die mit Telefongesprächen Millionen verschieben, die in Hotellobbys Verträge beraten, die unablässig arbeiten und arbeiten, ohne dass man sagen könnte, worin ihre Arbeit überhaupt besteht. Angesiedelt in der tristen Winterlandschaft im Grenzgebiet zwischen Frankreich und der Schweiz, zeigt Cantet mit kaltem Blick ihr undurchsichtiges Tun, während sich Vincent zunehmend verstrickt. Dass bei all dem nicht einmal ein Hauch von Spannung aufkommt, ist die eigentliche Leistung Cantets. Und so ist „Auszeit“ auch kein Drama im engeren Sinn, sondern vielmehr eine Meditation über die Arbeit in der Welt der Wirtschaft, über Papierstapel, Termine, Bilanzen, Broschüren sowie schwarze und rote Zahlen.

„Auszeit“, Buch und Regie: Laurent Cantet. Mit Aurélien Recoing, Karin Viard, Serge Livrozet u. a.; Frankreich 2001, 128 Minuten

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