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Kommentar FlüchtlingsprotesteWider die guten Ratschläge

Christian Jakob
Kommentar von Christian Jakob

Der Protest der Asylbewerber war erfolgreich. Noch nie hat der Staat der Flüchtlingsbewegung auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet.

Wieviel hat dieses Bild bewirkt? Flüchtlingsprotest im Herbst 2012. Bild: dpa

D ie Kirche und der Staat, Grüne und Anarchisten: Es war eine seltsame Allianz, die da in den letzten Monaten meinte, den Flüchtlingen hineinreden zu müssen, wie sie zu protestieren haben.

Tatsächlich haben sich die streikenden Asylbewerber seit Beginn ihrer Aktionen im März für Methoden entschieden, die sonst in Diktaturen üblich sind. Sie nähten sich die Münder zu und schnitten sie wochenlang nicht wieder auf; über Monate verweigerten sie die Nahrungsaufnahme, Hunderte Kilometer marschierten sie durchs Land, seit Wochen hocken sie jetzt in der Kälte auf zwei zentralen Plätzen in der Hauptstadt.

Man könne „nicht an die Menschenrechte appellieren, indem man sich selbst verletzt“, predigte ihnen schon früh der bayerische evangelische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, dies sei „bei aller Verzweiflung nicht der richtige Weg“. Die Stadt Würzburg verbot den meist iranischen Asylbewerbern „zum Schutz der Öffentlichkeit“, sich mit ihren zugenähten Mündern in der Innenstadt zu zeigen, scheiterte damit allerdings vor Gericht.

Bild: taz
Christian Jakob

ist Redakteur der taz.

Auch Linksradikale aus der Unterstützerszene hielten Abstand: Ihnen war die selbstzerstörerische Disziplin der Dauerdemonstranten suspekt, sie erinnerte sie an die Aktionen von fanatischen Kadern autoritärer Parteien. Und ähnlich wie einige Wohlfahrtsverbände distanzierte sich die Grünen-Politikerin Simone Toller „entsetzt“, als sie sich im Frühjahr erstmals die Münder zunähten: Sie lehne „jedes Mittel ab, was einem selber Schmerzen zufügt“, sagte Toller, denn dies mache „jeden politischen Dialog für die Sache aller Flüchtlinge unmöglich“.

Viel falscher konnte die Frau nicht liegen. Das Gegenteil ist der Fall.

Von der großen Politik beachtet

Am Donnerstag trafen die protestierenden Flüchtlinge in einer eigens angesetzten Sitzung die Spitzen des Innenausschusses des Bundestags. Eingeladen hatte sie der stellvertretende CDU-Fraktionsvorsitzende Wolfgang Bosbach. Vor zwei Wochen hatte sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit ihren Forderungen befasst. Die Flüchtlinge hatten Vertreter des Menschenrechtsausschusses getroffen und waren von der Staatsministerin Maria Böhmer empfangen worden.

Was bei all dem politisch am Ende herauskommen mag, sei dahingestellt. Aber fest steht jetzt schon: Noch nie hat der Staat der Flüchtlingsbewegung auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gewidmet. Und diese Aufmerksamkeit hat sie nicht trotz, sondern wegen der selbstzerstörerischen Formen des Protests bekommen.

Denn in Deutschland gibt es seit über 15 Jahren Selbstorganisationen von Flüchtlingen. Ihre wichtigsten Forderungen sind dieselben wie die der aktuell Streikenden: Keine Residenzpflicht, keine isoliertes Leben im Lager, keine Sachleistungen, keine Arbeitsverbote. Von einer Abschaffung dieser Bestimmungen würden über 100.000 Geduldete und Asylbewerber im Land profitieren. Doch alle früheren Aktionen haben kaum jemand interessiert; die Wahrnehmungsschwelle der Mainstream-Medien und der großen Politik vermochten sie nie zu überschreiten.

Die Erpressung der Mächtigen

Dass dies nun anders ist, ist schön für die Protestierenden, aber eine totale Blamage für die politischen Vermittlungsinstanzen. Medien, Parteien, Institutionen der Zivilgesellschaft und bestimmte Teile des Staats sind auch dazu da, die Interessen gesellschaftlicher Randgruppen aufzunehmen und ins Zentrum der politischen Aushandlung zu tragen. So sollen auch die berücksichtigt werden, die keine Lobby haben und weit weg sind vom Staat sind – dessen Gewalt aber trotzdem unterworfen sind.

Funktioniert dieser Mechanismus nicht, bleibt ihnen im Zweifelsfall nur noch die Erpressung der Mächtigen – entweder durch Gewalt oder durch die moralische Bloßstellung, die es bedeuten würde, wenn ihr Hungertod oder ihre Selbstverstümmelung einfach hingenommen würde. Demokratien zeichnet aus, dass niemand es nötig haben sollte, diesen Weg zu beschreiten. Die protestierenden Iraner waren es aus ihrer Heimat hingegen gewohnt, so mit dem Staat umgehen zu müssen. Dass sie damit auch hier richtig lagen, wollten viele ihrer Kritiker nicht wahrhaben.

Doch damit Deutschland anfängt, sich für die Rechte von Flüchtlingen zu interessieren, müssen die erst bis zum Äußersten gehen.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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11 Kommentare

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  • Z
    zensiert

    so brutal und korrupt als auch abgestumpft wie Gesetze, Medien und Politik hier zu Lande sind, so wundert es mich im Nachhinein nicht, dass diese Menschen nur durch solchen Protest etwas bewirken. Wenn dies mit anderen Formen überhaupt möglich sein sollte...

    In Deutschland ist vieles nur Fassade...

  • S
    semko

    sehr guter artikel.... im iran nähen sich tatsächlich viele politische gefangene, die gefoltert werden, und so zum reden gezwungen werden sollen, die münder zu und essen nicht mehr. so zeigen sie, dass die folterer keine chance haben aus ihrem mund etwas zu hören. niemand findet es gut, sich selbst weh zu tun. aber hier in deutschland kann man zwar frei reden, nur hört einem als flüchtling keiner zu. es ist also auch ein symbol dafür, dass ihnen keinen zuhört. wie geschrieben, war es immer der letzte ausweg nach vielen anderen protestformen. umso scheinheiliger ist es, so zu tun, als könne man doch ganz einfach "normal" protestieren, um gehört zu werden.

  • W
    würzburgerin

    Die Grünen-Politikerin heißt übrigens Simone Tolle.

  • L
    lowandorder

    Danke für den Klartext.

    Behalt dein heißes Herz - die Ebene ist lang.

     

    Den weiterhin und im Warmen sitzenden

    Bedenkenträgern ( bay. Landesbischof, da schau her) und Verschwörungstheoretikern ins Stammbuch:

    Thoreau hat das schon klar gemacht - einer wie Georg Elser auf den Punkt gebracht und mit dem Leben bezahlt:

    versagen andere Formen und Mittel - nach DEINER Einschätzung -

    dann verantwortest nur DU, was zu tun ist.

    Und niemand sonst!

    Laß dir nichts anderes einreden - von wem auch immer.

    Do it.

    So geht das.

     

    Als viele RichterInnen, vor allem meiner Generation und quer durch die Gerichtsbarkeiten und Instanzen gegen die politisch durch alle Parteien längst abgekartete Schleifung des

    international hervorstechenden Asylrechts nach Mölln, Solingen und Hoyerswerda u.a. mit Aktionen wie " Fünf vor Zwölf" demonstriert haben, wußten wir zwar, daß das nicht

    mehr " zu gewinnen" war, hofften aber doch, auf eine Entspannung der Situation.

    Das war naiv. Und folgte letztlich dem bekannten Lied

    " wir waren keine Asylbewerber"( …Dieter Bonhöffer).

     

    Es ist also wohlfeil, sich auf auch nur irgendeinen Pidestal zu begeben.

    Einfach mal die Klappe halten, die eh nix kostet.

    Danke.

  • J
    Jemand

    Bezeichnend für die Heuchelei in Deutschland ist ein Denkmal für die Gräueltaten gegen Sinti und Roma errichten und zeitgleich im GRÜNEN Ländle Massenausweisungen der selben vorzunehmen!

  • DE
    dolor est gaudium

    Trotz allen Verständnisses - es gibt Bereiche des Lebens, da empfinden Menschen eine solche Selbstverletzung als Freude und zahlen viel Geld dafür. Dies kann nicht Druckmittel gegenüber einem Staat sein, das ist zu einfach und lediglich eine Momentaufnahme - Effekthascherei. Mir wäre es eher eine unterhaltsame Freude mal zu schauen wie es ist, den Mund zugenäht zu haben, als dass ich damit um Aufmerksamkeit bitten möchte. Aufopfernde Selbstverletzung sieht meiner Ansicht nach anders aus.

  • T
    T.V.

    Da müssen erst Ausländer kommen um uns zu zeigen wie demonstrieren wirksam funktioniert, das ist doch der Punkt der die Kritiker am meisten wurmt.

  • H
    HamburgerX

    Falsch, falsch, falsch! Der Protestzug nach Berlin ist ein gesteuerter, von der Linkspartei begleiteter politischer Klamauk, bei dem es darum geht, linksradikale Forderungen nach ebenso radikalem Asylrecht eine öffentliche Szene zu verschaffen. Niemand, der ernsthaft vor politischer Verfolgung flüchtet, wird einen Fußmarsch nach Berlin durchführen, weil er mit Essen, Schlafraum und Gesundheitsfürsorge beglückt wird, aber stattdessen bares Geld haben will.

     

    Diese anmaßende Haltung schadet nur denjenigen Asylbewerbern, die zu Recht flüchten. Anstatt also dieser politischen Show auch nur irgendeinen Raum zu geben, muss endlich konsequent gegen die massenhafte unberechtigte Asylmigration vorgegangen werden, bei der u.a. im ehemaligen Jugoslawien mit Fluglättern für ein Winterqartier in Deutschland geworben wird (Quelle Zeit.de über Beschwerden der Kommunen). 99% dieser Bewerber, teils durch Schleuser hierhergefahren, werden als Asylanten abgelehnt. Und ich soll als Steuerzahler mit meiner Arbeit für diese Leute einstehen, indem mir ein Teil meines Lohnes dafür geraubt wird, weil die Forderungen wie Ausweisungsstopp erheblich Mehrkosten zur Folge haben? Langsam reichts!! Nehmt gefälligst in Euren Wohnungen diese "Flüchtlinge" auf und stattet sie mit Geld aus, liebe Asyllobbyisten!

  • A
    antonius

    Großer Fehler der Leute... Facebook... spielt in Eurapa eigendlich keine politische Rolle und dann das Aktuellste , wie auf linksunten.indymedia angekündigt,

    nur auf Facebook zu veröffendlichen naja...

  • AA
    Alle außer das Volk

    "Die Kirche" und "der Staat", Grüne und Anarchisten.

    So schreibt man es richtig. Kurz "die Zivilgesellschft".

     

    Also alle außer das Volk. Das soll ja bloß nicht mitreden.

  • SL
    Stephan Link

    "Medien, Parteien, Institutionen der Zivilgesellschaft und bestimmte Teile des Staats sind auch dazu da, die Interessen gesellschaftlicher Randgruppen aufzunehmen und ins Zentrum der politischen Aushandlung zu tragen". Ja, das ist richtig, und genau dass haben die genannten politisch Aktiven wie Simone Tolle und andere getan. Nicht nur in dem sie frühzeitig den Protestierenden zur Zeite standen, sondern auch, indem Sie den Protest von Würzburg bis nach Berlin begleitet haben. Es war wohl doch eher ein Zusammenspiel der Kräfte. Und, es kommt hinzu, dass weite Teile der Bevölkerung (insbesondere am Ausgangspunkt in Würzburg!) wider erwarten manch konservativer Kreise, den Protest grundsätzlich als berechtigt ansieht. (Hier darf als wichtigstes Indiz der gemeinsame Beschluss des Würzburger Stadtrats zur GU angeführt werden!). Es ist ein gutes Zeichen für diese Gesellschaft, dass die Bevölkerung eine substantielle Verbesserung der Situation der Flüchtlinge in Deutschland wünscht. Nun sind die regierenden Bundes- und Landespolitiker gefordert!