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Archiv-Artikel

zwischen den rillen Britpop für Globetrotter: Blur streben zu neuen Ufern

Die große Flucht

Langeweile ist der erste Schritt zur Besserung. Und langweilig dürfte den Jungmillionären von Blur schon seit einiger Zeit geworden sein. Einige leisteten sich exklusive und kostspielige Hobbys wie Flugzeuge fliegen oder führten ansonsten das rundum gesunde Leben junger Familienväter. Oder sie engagierten sich, wie Damon Albarn, in ihrer Freizeit für die britische Friedensbewegung CND. Letzteres brachte dem Blur-Sänger, eine Reminiszenz an glorreichere Zeiten, einmal mehr wüste Beschimpfungen („Prickhead“) seitens der einstigen Rivalen von Oasis ein, die sich im Reflex flugs zum Kriegskurs von Tony Blair bekannten.

Doch Damon Albarn ist längst ganz woanders. Liest man Albumtitel wie „Modern Life is Rubbish“, „Parklife“ und „The Great Escape“ wörtlich, dann haftete Blur schon immer eine Spur von Zivilisationsmüdigkeit, bohemistischem Ennui und Eskapismus an. Diese weitete sich durch den Ausstieg des Gitarristen Graham Coxon im Herbst 2002, mitten in den Vorarbeiten zum aktuellen Album, allerdings zur handfesten Sinnkrise aus: Eine Gitarrenpopband ohne Gitarristen? Was soll denn das sein?

Damon Albarn, schon immer die treibende Kraft hinter Blur, bekräftigte das nur in seiner Flucht nach vorne, in die Elektronik und eine gemäßigte Exotik. Kurzerhand verfrachtete er seine verbliebenen Jungs samt sündhaft teurem Studio-Equipment nach Marokko, vor die Tore von Marrakesch, um sich für die Aufnahmen für eine Weile aus dem normalen Alltag auszuklinken. Denn was machen junge Menschen in der westlichen Welt gewöhnlich, wenn sie die Sinnkrise befällt? Richtig: Sie reisen in möglichst ferne Länder, um zu sich selbst zu finden.

Schon vor zwei Jahren war Albarn im Auftrag der britischen Charity-Organisation Oxfam erstmals nach Afrika, etwas weiter südlich nach Mali gereist und hatte dort mit westafrikanischen Musikern wie Afel Boucoum und Toumani Diabaté in gemeinsamen Jam-Sessions ein sympathisch unprätentiöses Studio-Album („Mali Music“) eingespielt. Daneben hatte er als Sänger an der virtuellen Zeichentrick-Band Gorillaz mitgewirkt, mit der ihm sein größter Hit seit langem gelang. Und nicht zuletzt dürfte ihn der Austausch mit Robert Del Naja alias 3 D von Massive Attack, einem anderen geläuterten Pop-Millionär der Neunzigerjahre, mit dem er gemeinsam gegen den Irakkrieg auf die Straße gegangen war, neue Impulse gegeben haben.

All diese Einflüsse sind nun auf „Think Tank“ zu hören, dem verflixten siebten Blur-Album. Nur von Marokko, dem Sehnsuchtsort amerikanischer Beat- Poeten und verkiffter Hippie-Aussteiger aller Generationen, findet sich auf „Think Tank“ kaum eine Spur. Der ehemalige Rolling-Stones-Gitarrist Brian Jones hat hier einst, quasi in Feldforschung, in den Sechzigerjahren ein ganzes Album mit den Gnawa-Musikern der „Master Musicians of Joujouka“ eingespielt, ein obskures Stück Ethno-Psychedelica und ein Meilenstein der so genannten Weltmusik. Und auch ein Dub-Produzent wie Bill Laswell wurde hier auf der Suche nach orientalischem Material fündig.

„Think Tank“ jedoch ist, entgegen anders lautenden Gerüchten, definitiv kein Weltmusik-Album geworden. Mag sein, dass der fremde Ort den drei Briten als Inspiration diente und sie den Sonnenaufgang über der Sahara genossen haben. Doch die exotischen Einflüsse auf „Think Tank“ sind sehr dezent: Mal klimpert eine Kora, eine westafrikanische Harfe, im Hintergrund von „Out of Time“, und manche Rezensenten wollen dort sogar ein ganzes arabisches Streichorchester ausgemacht haben. Das aber könnte auch eine Fata Morgana gewesen sein.

Auf „Think Tank“ vertrauen Blur statt auf Gitarren nunmehr auf die Weisheit von Sequencern und Loops. Es knarzt, rumpelt und fiept an allen Ecken, und über allem erhebt sich der wundervoll melacholische Gesang Damon Albarns. Oft sind es sehr kleine Ideen, auf denen ganze Songs aufgebaut sind: eine akustische Gitarrenmelodie, ein verfremdeter Drum-Loop, ein hüpfender Bassgroove. Das Stück „Jets“ etwa klingt, als stamme sein Rhythmus vom Quietschen eines rostigen Bettgestells.

Solch filigranen Balladen und Dub-Fingerübungen stehen zwei lärmige Big-Beat-Ungetüme gegenüber, die man auf dem CD-Player am besten überspringt. Das elektronische Gebollere stammt von Fatboy Slim, der für zwei Stücke als Produzent verpflichtet wurde. Diese allerdings bilden den einzigen Schwachpunkt eines Albums, das ansonsten ganz aus einem Guss klingt.

Blur haben damit nicht nur eine neue Identität als gitarrenloses Trio gefunden, sondern auch endgültig mit jenem Begriff von Britpop, wie man ihn bislang kannte, abgeschlossen.

„Think Tank“ markiert keinen Abschied vom Britpop, sondern lediglich von dessen restaurativen und nostalgischen Aspekten. Denn Blur haben ihr musikalisches Vokabular nicht grundlegend geändert, sondern sich lediglich für den technologischen Fortschritt geöffnet – und für eine gewisse Weltoffenheit, die leider gerade auch in der britischen Popszene noch immer selten ist. Dabei ist ihr künstlerisches Kosmopolitentum eigentlich beste britische Tradition, seit die Beatles nach Indien aufbrachen.

In letzter Zeit haben sich so unterschiedliche Musiker wie der kürzlich verstorbene, einstige Clash-Sänger Joe Strummer (mit seinem Album „Global à Go Go“), der linke Barde Billy Bragg und die Band Cornershop jeweils auf ihre Weise an einer Neudefinition von „Englishness“ versucht – der Frage, was es heute, im Zeitalter von wirtschaftlicher Globalisierung und weltweiter Migration, noch heißt, britisch zu sein. Das sich nun auch Blur in dieser Spur bewegen, mag die Neokonservativen unter den britischen Musikjournalisten provozieren. Doch es zeigt nur, dass die kulturelle Globalisierung nun auch Englands Mitte erreicht hat.

DANIEL BAX

Blur: „Think Tank“ (EMI)