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Archiv-Artikel

zwischen den rillen Techno lebt: Ricardo Villalobos und Plastikman

Für immer aufbleiben

Sonntags zieht es die Alten auf den Friedhof, Freunde und Verwandte besuchen. Die Jungen, zumal sie mit Schreiben ihr Geld verdienen, bleiben gern zu Hause und spielen Beerdigung. Falsche Freunde und abgelebte Bekannte; es gibt vieles was sich nach dem Brunch und den ersten zwei Milchkaffees beerdigen ließe. Die Ironie: längst verbuddelt. Popliteratur, die Neunziger, die Spaßgesellschaft und der Spaß: alles tot. Es heißt Abschied nehmen von und verzichten auf.

Gerade Techno wird dieser Tage besonders ausgiebig beerdigt, die Stars zu alt, der Sound zu stumpf, so das Verdikt der Daheimgebliebenen, oder besser: der zu früh Heimgekehrten. Denn die Chancen stehen nicht schlecht, dass immer dann, wenn jemand daheim Techno den Atem fühlt, dort draußen ein früh Vollendeter entrückt grinsend den Crossfader seines Mischpultes um ein paar Millimeter nach links schiebt: die Ahnung einer neuen Bassline andeutend, das kollektive Lächeln der Tanzfläche erntend.

Ricardo Villalobos ist dieser Mann für die späten Stunden. High Noon steht er meist da wie der Heiland persönlich, und weil es so schön ist, spielt er „Easy Lee“, den ersten Track seines gerade erscheinenden, ersten Albums „Alcachofa“.

Als DJ ist er bereits ein Mythos – seine Fangemeinde spricht ehrfurchtsvoll von 22-stündigen Sets und bewusst klein gehaltenen Gagen – und jetzt dies: „Alcachofa“ ist die unumstrittene Konsensplatte des House- und Techno-Herbstes. Man muss diese Musik nicht im Club gehört haben, um sie zu verstehen. Die euphorisierende Melancholie seiner Tracks erschließt sich jedem, der ein Ohr für abseitige Psychedelik hat. Der Effekt liegt bei ihm, als DJ wie als Produzent, stets in kleinsten Verschiebungen – ein kurzer, rein stolpender Conga-Schlag hier, eine nach sieben Minuten fast unmerkliche Harmonieverschiebung dort – die eben dann die größte Wirkung entfalten, wenn der Wunsch nach vorwärts peitschenden Hits am geringsten ist. Mittags, weich geschleudert im Club, oder, viel später noch, abends auf der Couch.

Je länger man aufbleibt, desto mehr verschiebt sich die Wahrnehmung. Villalobos, so scheint es, bleibt stellvertretend für alle auf. Er ist der Held aller, die nicht zu Bett wollen, der die späten Momente dieser Tag gewordenen Nächte auf Platte bannt und so auch mit den weniger Hartgesottenen teilt. Nicht eine Sekunde seines Albums langweilt, jeder Loop wurde tagelang getestet: Nur was nach halben Ewigkeiten nicht nervte, durfte weiter benutzt werden. „Mein Wesen ist nicht von dieser Welt“, sagte er kürzlich in einem Interview. „Mein Wesen ist von einer Welt, in der alles Larifari ist.“ Das ist mehr, als die meisten von sich behaupten können.

Auch Richie Hawtins Musik stand bislang im Ruf, nicht ganz von dieser Welt zu sein. Als Plastikman hatte er vor über fünf Jahren sein letztes Album produziert und sich seitdem fast ausschließlich als welttourender DJ verdingt. Und nun sollte, so hörte man im Vorfeld, mit „Closer“ plötzlich alles anders sein. Es werde sein bislang persönlichstes Werk werden, hieß es, und das vom stringentesten Konzeptkünstler des Techno-Universums. Selbst seine sorgsam gehütete Corporate Identity als stets Brille tragender, glatzköpfiger Techno-Intellektueller sei Vergangenheit. Augenzeugen berichteten von einem neuen Look, einer Villa auf Ibiza und Partymarathons mit Sven Väth und nicht zuletzt Ricardo Villalobos, kurz: von einem rundum erneuerten Richie Hawtin. So konnte man durchaus gespannt sein, ob der neue Hawtin den alten Plastikman mit auf die Sonnenseite des Lebens nehmen würde.

Schon das Intro von „Closer“ macht unmissverständlich klar: Es ist einmal mehr die dunkle Seite des Mondes geworden. Richie Hawtins „persönliche“ Stimme ist so böse heruntergepitcht, das einem das Blut in den Adern gefriert. Konsequent formuliert Hawtin seine Produktionsmittel aus, eines kälter funkelnd als das andere, und das, ohne je auf die Tanzfläche zu schielen. Hawtin scheint alle Zeit der Welt zu haben und immer noch genau zu wissen, das ein einziger, neun Minuten von ihm modulierter Clap interessanter ist als die Jahresproduktion der meisten Kollegen.

Wo sein Freund Villalobos Larifari ist, wird Hawtin gnadenlos. Wo beim einen das ständige Einstreuen neuer Rhythmuspartikel zur Hypnose führt, ist es beim anderen die mathematische Unerbittlichkeit, mit der die reduzierten Mittel eingesetzt werden.

Beide Wege, hier im Schlendergang, dort mit Karte und Kompass, führen zum Ziel. Man muss es fairerweise sagen: ein Ziel, das ganz weit draußen liegt, irgendwo dort, wo sich Wahnsinn und Wachkoma freundlich gute Nacht sagen.

CORNELIUS TITTEL

Richardo Villalobos: „Alcachofa“ (Playhouse); Plastikman: „Closer“ (Mute)