zwischen den rillen : Grauslige Geschichten aus der Garage
Mit seinem Debüt „Boy In Da Corner“ erfindet Dizzee Rascal den britischen HipHop neu
Es ist eigenartig. Auf allen fünf Kontinenten finden sich mittlerweile lebendige HipHop-Szenen, nur Großbritannien, das traditionell immer vorne lag, wenn es um den Import und die Bearbeitung der Popkulturmodelle des schwarzen Amerikas ging, bildet, von einigen Ausnahmen abgesehen, einen weißen Fleck auf der globalen HipHop-Landkarte.
Das war nicht immer so, in den späten Achtzigern hatte Britrap noch einen durchaus guten Namen. Doch eine gewisse Phasenverschiebung bei den Übertragungsraten popmusikalischer Styles ließ den britischen HipHop im Jungle aufgehen, und die Aufgabe des Jungle-MCs war es, die Tänzer anzufeuern. Geschichten sollte er keine erzählen. So sind es auch Vergleichsgrößen aus allen möglichen Genres, die herbeizitiert werden, um das sensationelle Debütalbum „Boy In Da Corner“ des 19-jährigen Ostlondoner Ghetto-Garage-Rappers Dizzee Rascal zu würdigen: Tupac Shakur, Nirvana, Morrissey, Tricky.
Tatsächlich hat diese Musik etwas ganz Eigenes. Man hört zwar durch, dass Rascal sich viel auf Garage-Raves, Dancehall-Partys und HipHop-Jams herumgetrieben hat. Trotzdem erinnert diese Musik nie an jenen Recyclinghof, von dem aus die Welt gerade mit Clubsounds versorgt wird. „Boy In Da Corner“ kommt von der anderen Straßenseite. Diese Platte hört sich an, als sei Rascal in einem Haus aufgewachsen, das auf den nie sanierten Resten einer Batteriesäurefabrik errichtet worden ist. Als hätten die Radiowellen der Londoner Piratensender Rascal-DNA gegrillt. Extrem krank in einer gewissen Weise.
So krank, wie einen eine Gegend machen kann, deren Armut einen ständig hetzt und den Alltag zu einem einzigen Kampf macht. So krank aber auch, wie sich eine Musik anhören muss, wenn das aggressive Gewummere von Dancehallbässen und das abstrakte Geklapper der R-&-B-Beats der Soundtrack ist, der das Kinderzimmer durchstrahlt. Wenn man schon vergleichen möchte: Das letzte Debüt, das so radikal, so düster, so abgehackt und so ganz aus seiner eigenen Welt zu kommen schien, war „Enter The 36 Chambers“ des New Yorker Wu Tang-Clan.
Doch im Unterschied zu den meisten Entwürfen aggressiver Ghettomusik handelt „Boy In Da Corner“ eben nicht nur von dem Triumph, gegen alle Widrigkeiten gekämpft und sich schlussendlich durchgesetzt zu haben. Diese Momente gibt es, aber eigentlich erzählt Rascal von der Unterseite dieses Lebens. Von Verzweiflung, von Ausweglosigkeit, von dem Gefühl, ausgeliefert zu sein.
Die Hitsingle „I Luv U“ etwa ist mitnichten ein Liebeslied: „Some whore banging at your door what for? Pregnant? What you’re talking about this for? Fifteen? She’s underage that’s raw“, rappt Dizzee und das Mädchen antwortet: „That boy’s some prick you know, all up in my hair, thinks that I care, keeps following me here, keeps following me there, these days I can go nowhere“. Und in „Do It“ heißt es: „Sometimes I wake up, wishing I could sleep forever, I spend my whole life, trying to pull myself together […] If I had the guts to end it all I would.“ Teenage-Schwangerschaften und Selbstmordabsichten. Da ist kein Gefühl des Zusammenhalts mehr, Liebe funktioniert nicht, Freundschaft funktioniert nicht, nichts funktioniert mehr.
Grausliger Kram. Dizzee Rascal kann ihn erzählen, weil er für ihn nur eingeschränkt gilt. Zwar ist auch er inmitten von Gewalt und Verbrechen aufgewachsen, hat auf der Straße herumgehangen und Dinger gedreht, ist von unzähligen Schulen geworfen worden. Doch nachdem er aus allen Unterrichtsfächern verbannt war, erlaubte ihm sein Musiklehrer noch immer zu erscheinen, seine Tracks auf dem Schulequipment zu produzieren.
Wenn man so will, ist dies der digitale Folk für das beginnende Jahrhundert, Musik von Leuten aus einer Gegend für die Leute einer Gegend. Es sind Geschichten, die in ihrer Mischung von Liebesleid, Verzweiflung und Mord den Feldaufnahmen in nichts nachstehen, mit denen Harry Smith in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts den Sound des amerikanischen Südens aufzeichnete.
Aber es ist eben auch eine Musik, die in ihrer Mischung aus Aggression und Verletzlichkeit, Verträumtheit, Narzissmus, Wut, Fatalismus und Sehnsucht eben auch glaubwürdiger Ausdruck der Seelenqualen eines 19-Jährigen ist. Es müsste schon wunderlich zugehen, wenn diese Stimme nicht bald als die Stimme einer Generation gehandelt werden würde. Das würde der Angeberzeile „I’m a problem for Tony Blair“ auch eine ganz neue Bedeutung geben. TOBIAS RAPP
Dizzee Rascal: „Boy In Da Corner“ (XL-Recordings/Zomba)