wir lassen lesen : Ein Buch gegen den Après-Tour-Kater
Freizeit-Merckx mit Dünnpfiff
Über den Col de Vars führte die Strecke der diesjährigen Tour de France nicht. Deshalb ließ sich auch nicht überprüfen, ob der Name noch da ist: „Moore“, einfach nur „Moore“, inmitten der „Allez Virenque“- oder „Go Lance“-Schriftzüge. Die fünf Buchstaben hat der Engländer Tim Moore selbst auf die Straße gemalt, an einem ganz schwarzen Tag seiner Tour de France 2000 – fast so schwarz wie jener, an dem er seinem kleinen Sohn erklären musste, dass er nicht gegen Jan Ullrich und Lance Armstrong um das gelbe Trikot radelt.
Tim Moore hatte zwar den ehrgeizigen Plan gefasst, die gesamte Strecke der Tour abzufahren, aber allein, und lange bevor die Götter des Radsports ihre Reifen dort rotieren ließen. Warum ein 35-jähriger Nichtmalhobbyradler, sondern blutiger Dilettant aus einem Londoner Vorort einen solchen Plan fasst, vermag Moore nicht schlüssig zu erklären. Aber das muss er auch nicht. Der Grund liegt ja auf beziehungsweise in der Hand: um ein Buch darüber zu schreiben. Nicht umsonst ist Moore ein renommierter Autor satirischer Reisebücher.
Dieses Buch, „Alpenpässe und Anchovis“, ist recht kurzweilig ausgefallen, genau das Richtige, um den Après-Tour-Kater zu bekämpfen, der jeden unweigerlich befällt, welcher drei Wochen lang tagtäglich fünf Stunden vor dem Fernseher zugebracht und auf stampfende Waden gestarrt hat. Wer sich Wochen, bevor die echte Frankreich-Rundfahrt beginnt, auf die Strecke begibt, die ihn von Futuroscope in einer großen Schleife zurück nach Paris führen soll, erlebt eine Menge seltsamer Dinge, angefangen von der missratenen Anchovispizza, die als deutsche Namensgeberin des im Original „French Revolutions“ betitelten Werkes herhalten muss, bis zu den besagten Alpenpässen, die Moore erstaunlicherweise sogar zum Teil bewältigt.
Denn schon als der kühne Radler gleich zu Beginn einen vier Etappen langen Schlenker in die Bretagne kurzerhand streicht, weil es regnet, ahnt der Leser, dass es mit der Willenskraft des britischen Freizeit-Merckx nicht zum Besten steht. In den Pyrenäen schafft er dann auch das Kunststück, nahezu jede größere Steigung entweder schiebend zu bewältigen oder ganz wegzulassen, am Mont Ventoux kippt er aus dem Sattel, über besagten Col de Vars lässt er sich dünnpfiffgeplagt von seiner Gattin chauffieren, die mit den drei Kindern im Schlepptau zur Unterstützung angereist ist. Aber bitte: Am Ende erreicht er Paris, ist 3.000 Kilometer geradelt und hat schließlich auch knifflige Aufgaben wie den Galibier, Telegraphe, Madeleine, Lauteret oder Joux-Plane bewältigt. Nicht schlecht für jemanden, der eigentlich ein Mann der Feder ist.
Als solcher erweist er sich mit spitzer Formulierungskunst, zahllosen Anekdoten, sowohl aus der Geschichte der echten Tour als auch der seiner eigenen Tour, sowie diversen pointierten Urteilen über die beteiligten Völker – Deutsche, Schweizer, Italiener, Franzosen –, die eigentlich genügen sollten, ganze Regierungsmannschaften am Urlaub in England zu hindern. Etappenort Freiburg zum Beispiel bekommt samt „Hänsel-und-Gretel-Kathedrale“ gehörig sein Fett weg: „Das Zentrum war wahrscheinlich im Krieg dem Erdboden gleichgemacht worden, aber es sah aus, als hätte man gerade erst damit begonnen, es wieder aufzubauen.“
Einen Großteil des Buches machen aber die ironischen Selbstbespiegelungen aus, die das Bild eines schmächtigen, aber kräftigen, ständig hungrigen, erst recht durstigen Briten zeichnen, der eigentlich körperliche Tätigkeiten hasst und entsprechend gestresst durch die Lande radelt. Ein nörgeliger Gernegroß, der die Leute am liebsten mit seinem Standardsatz nervt: „La Tour passe ici?“, dessen falscher Grundgehalt („Fährt der Turm hier vorbei?“) ihm erst am Schluss aufgeht.
Tim Moore fühlt sich nach langjähriger TV-Tour-Erfahrung und entsprechender Lektüre hingezogen zu Radgrößen wie Bernard Hinault oder Eddy Merckx, denen er unbedingt nacheifern möchte. Er ist verrückt genug, sich die Beine enthaaren zu lassen, weil das die Profis tun, geschmacklos genug, einen feucht-unfröhlich missratenen Versuch der Getränkeentsorgung im Fahren zu wagen, und idiotisch genug, alles über Tom Simpson zu lesen, der nach Einverleibung einer Mischung aus Aufputschmitteln und Alkohol am Mont Ventoux starb, und dann mit einer Mischung aus Aufputschmitteln und Alkohol im Leib selbst den Ventoux in Angriff zu nehmen. Permanent schwankt er je nach Waden- und Wettersituation zwischen den Extremen „fauler, zögerlicher Betrüger“ und „löwenherziger Unbestechlicher“, wobei das ständige Kokettieren mit beiden Inkarnationen auf Dauer etwas nervt.
L’Alpe d’Huez, die gefürchtete Bergankunft, war 2000 im Übrigen nicht im Programm. Wäre andererseits auch egal gewesen. Tim Moore hätte sie locker weggelassen. MATTI LIESKE
Tim Moore: „Alpenpässe und Anchovis. Eine exzentrische Tour de France“, Covadonga 2003, € 19,80