weinprobe: Dunkle Schönheit

In Deutschland wird Wein nicht als Kultur, sondern als Produkt gesehen. Etwas, das technisch machbar und kalkulierbar ist. Und so reden und schreiben Weinhändler, -journalisten und Winzer von Pfirsich-, Kirsch- und Sandelholzaromen, wenn sie Weine beschreiben. All das hat eine unfreiwillige Komik. Aber es gibt weltweit immer mehr Winzer, die mit einer noch nie so dagewesenen Ernsthaftigkeit Weine entstehen lassen, die man nur als Kultur erfassen kann. Es sind Weine, die entgegengesetzt zur Rationalität unserer Zeit stehen. Sie werden in kleinen Mengen hergestellt. Ihr Entstehungsprozess ist langsam – je mehr Zeit und Geduld der Winzer aufbringt, desto individueller und tiefgründiger kann der Wein geraten. Gelungene Tropfen lassen uns die Eigenschaften der Landschaft und die Handschrift des Winzers erleben.

Judith

Gols liegt unweit des Neusiedlersees an einer Durchgangsstraße. Daran ducken sich schmucklos Häuser. Das Zentrum des Ortes ist der Kreisverkehr, er teilt die Straße in Untere und Obere Hauptstraße. Hinter einer dieser staubigen Fassaden liegt das Weingut der Familie Beck. Judith Beck, 26 Jahre jung, schwarzes Shirt, entschlossener Blick, macht hier einen Rotwein, der die spröde Schönheit dieser Gegend und ihren eigenen Charakter zum Ausdruck bringt. Ein straighter und geradliniger Wein, an dem die überreizten Sinne unserer manipulierenden Welt ausruhen und genesen können. Verkörpert Gelassenheit, Tiefe und dunkle Spannung. Schmeckt köstlich und erfrischend. Erinnert an die Ruhe und Klarheit eines Bergsees. Ein Wein, dessen Unaufgeregtheit berührt.

2001 Zweigelt, Rotwein, Österreich, Burgenland, Weingut Beck. 7,90 € bei Ottenthal Weinhandlung, 10719 Berlin, Ludwigkirchstr. 9, Tel. (030) 88 77 66 83, Mo–Sa 11–20 Uhr

Red Label

Es gibt ein Deutschland jenseits der medialen Inszenierungen, Wehleidigkeiten und Ängste. Winzer Alex Michalsky und seine Weine verkörpern diese Welt. Menschen wie er haben es hier schwer. Aber sie sind Unbeirrbar. Das Ergebnis befindet sich in dieser Flasche. Es ist ein berührender Ausnahmewein, der, wie ein Marathonläufer, Muskeln, aber kein Fett hat, nichts Überflüssiges. Vereint Gegensätze wie Intensität und Leichtigkeit. Die geschmackliche Klarheit und Mineralität ist Ausdruck des „Rotliegenden“. Das ist eine seltene, rote Gesteinsformation aus der Urzeit, voller Fossilien und Saurierspuren, in der dieser Riesling gewachsen ist. Die Millionen Jahre alte Geschichte ist spürbar im Mund.

2003 „Red Label – Vom Rotliegenden“ Riesling trocken, Weißwein, Deutschland, Rheinhessen, Weingut St. Anthony. 10 € bei „Paasburg’s Wein aus Leidenschaft“, 10965 Berlin, Gewerbehof Fidicinstr. 3, Tel. (030) 61 10 18 38, Mo–Fr 11–18 Uhr, Sa 11–14 Uhr

TILL EHRLICH

Der Autor ist degustationserfahrener Weinkritiker und -publizist, 2003 wurde er als bester deutscher Weinjournalist mit dem Prix de Champagne Lanson ausgezeichnet