uli weihnachtsmann, liebling der massen : Seekrankheit auf dem Eise – Schlittschuhlaufen mit einem kleinen Troll vom Stamme White Trash
Wir haben die Leihschlittschuhe noch nicht angelegt, da kommt die Kleine schon auf uns Wildfremde zu: „Können Sie mir das Schlittschuhlaufen zeigen?“ Die Eisbahn Neukölln öffnet gerade erst für den Publikumsverkehr. Meine Bekannte Opinia und ich sind bislang die einzigen Erwachsenen hier.
Nein, sage ich halbherzig; ein leicht trotteliges Behelfslächeln strahlt zu mir hoch; ja, sage ich halbherzig; wir gehen alle zusammen aufs Eis. Das Mädchen hält sich am Handlauf fest, es ist nicht ansatzweise ein Gleiten zu erkennen oder der Hauch eines Konzeptes, das wenigstens die theoretische Möglichkeit eines Gleitens eröffnete. Ein Junge dreht Kringel um uns herum, er gehört wohl dazu und auch wieder nicht – ihr kleiner Bruder?
Noch nie habe ich mir Gedanken darüber gemacht, wie das Schlittschuhlaufen funktioniert; ich tue es einfach und meiner Begleiterin geht es da nicht anders. Ich bin ein schlechter Lehrer; das Mädchen ist eine schlechte Schülerin. Offenbar ist Bewegung zu Hause nicht angesagt, zumindest nicht für Mädchen. „Richte die Kufen auf“, sage ich – sie quetscht sie zur Seite. „Halt die Beine zusammen“, sagt Opinia – sie spreizt sie noch mehr. Sie löst sich vom Handlauf, wir stützen sie links und rechts, trotzdem fällt sie wie eine Leiche mit Gummiknochen in sich zusammen, zweimal können wir sie auffangen, dann plumpst sie endgültig aufs Eis, hoffnungslos. Wir wiederholen das Ganze mehrmals, sie lacht weiter trottelig und lieb unter ihrem Vokuhila, den ihr ein Mensch geschnitten hat, der sie sehr hassen muss. Dazu trägt sie eine Art Jogginghose. Die ganze Person ist von anrührender Hässlichkeit, von bezaubernder Dummheit, von herzzerreißender Ungeschicklichkeit. Ich tippe auf mütterlichen Alkoholgenuss während der Schwangerschaft. Und plumps!
„Wir müssen dann auch mal wieder“, versuche ich uns loszueisen. Von weitem sehe ich sie, Choreografie der Hilflosigkeit, wie eine Seekranke bei Windstärke zwölf über der Reling hängen. Immer, wenn wir vorbeikommen, dreht sie sich hilfesuchend zu mir um, sie sucht eher den Mann – fast wirkt Opinia wie Beiwerk, eine Mama hat sie wohl schon oder noch, wenigstens das. „Hilf mir“, ruft sie dann jedes Mal – es klingt erstaunlich emotionslos, ohne echte Erwartung. Ab und zu duzt sie mich jetzt, dann wieder sagt sie „Sie“ wie vorhin an der Schlittschuhausgabe.
Weil wir auch mal ungestört ein paar Runden drehen wollen, tue ich so, als ob ich sie nicht verstehe, als ob alles in Ordnung ist, doch nichts ist in Ordnung. Ich halte den Daumen hoch, rufe „weiter so – super machst du das“, während sie wie ertrinkend in der Luft herumrudert. Ich bin gemein. Und plumps!
Geduldig robbt sie weiter, sie scheint die Abweisung gewöhnt und das Warten. Macht nichts, irgendwann wird schon ein kleines bisschen Aufmerksamkeit abfallen – immerhin schreie ich sie nicht an. Später halten wir wieder neben ihr und kümmern uns um sie. Ihr Hosenboden ist durchgeweicht. Ihre Hände, die sie mir zum Aufhelfen reicht, sind rotgefroren, kalt und nass. Sie scheint es nicht zu bemerken. Sie trägt keine Handschuhe und ist inzwischen etwa zweitausendmal gestürzt. Bei aller Unbeholfenheit ist sie zäh. Ich gebe ihr Geld, um die Schlittschuhausleihe zu verlängern – sie selber hat keines mehr. Ihr unsicherer Stand, habe ich inzwischen festgestellt, liegt mit daran, dass sie nicht in der Lage ist, sich die Schuhe vernünftig zu schnüren. Wie alt wird sie sein? Ich schätze sie auf elf, ein kleiner Troll vom Stamme der White Trash.
„Kannst du mir die Schuhe schnüren?“, fragt sie mich. Dabei könnte ich ebenso gut jemand sein, der ihre Arglosigkeit, ihren verwahrlosten Instinkt und ihren Hunger nach Beachtung ausnützt. Am besten, ich adoptiere das Kind, damit es in Sicherheit ist. Ich werde mich mit ihm zusammen über kleine Fortschritte freuen, etwa, dass es schafft, die Schlittschuhe zu schnüren, oder große, dass es doch noch lesen und schreiben lernt. Es wird lernen, dass man auch etwas anderes essen kann als Kartoffelchips. Es wird lernen, zwischen ja und nein zu unterscheiden, zwischen guten und bösen Menschen, und dass sich nicht alle Erwachsenen ausschließlich schreiend verständigen. Dass es auch Väter gibt, die nicht jede Woche wechseln und von denen man nicht ständig hofft, dass sie bald wieder verschwinden, und die einen nicht anfassen, wenn man das nicht will, und die nicht immer so komisch schwanken und süßlich riechen. Na ja, Letzteres muss sie später lernen: Um mich von meinen neuen Pflichten zu erholen, trinke ich auf der Bank hinter der Bande einen Grog.
Als wir unsere Schlittschuhe abgeben, ist ihre Leihzeit auch wieder abgelaufen. Diesmal gibt Opinia ihr Geld, für Schnallenschuhe. Auf meinen Rat hin – die Schnürsenkel wollte ich ihr dann doch nicht binden. Es wird nämlich Zeit zum Abnabeln. „Kommen Sie morgen wieder?“, fragt das Mädchen. „Nein“, versuche ich ihr sinnlos ein schlechtes Gewissen zu bereiten, „wir haben kein Geld mehr.“ Sie blickt uns nach, doch sie läuft uns nicht hinterher. ULI HANNEMANN