theorie und technik : Trotz der Sehnsucht nach klaren Aussagen: Auch das Ende der Theorie wäre ein Fall für Theorie
Die französische Theorie rückte ins Blickfeld, was die alte Linke nur als Überbau wahrnahm: Kunst, Sex, Sprache, Werbung, Begehren
Es gibt einen antifranzösischen Affekt. In Amerika ist er sehr verbreitet. Dort dachten sich die Wahlhelfer von George W. Bush beispielsweise, sie würden dem rivalisierenden Kandidaten am ehesten schaden, wenn sie in Umlauf brächten, John F. Kerry „sieht französisch aus“. Aber diese Aversion gegen das Französische zieht viel weitere Kreise. Nach vier Jahrzehnten Strukturalismus, Poststrukturalismus, Postmodernismus geht manchen schon die Galle hoch, wenn das Wort „Theorie“ fällt, und dann dauert es meist nicht lange, bis ein herablassendes Wort über „die Franzosen“ folgt.
Zwar ist man in kultivierten Kreisen im Prinzip dagegen, Toten Schlechtes nachzusagen; doch das ist ein Prinzip, das natürlich nichts gilt, wenn ein Mann wie Jacques Derrida stirbt. Dann darf gespottet werden, wie im Nachruf des Economist, der erschüttert darauf hinwies, dass neuerdings sogar unter Theologen Interesse an Derridas Studien herrsche („Möge Gott ihnen beistehen“). Schon wird auf Tagungen das „End of Theory“ annonciert und Terry Eagleton, der große Popularisierer fremder Gedanken, sorgte unlängst mit seinem Abgesang „After Theory“ für Aufsehen. Im Grunde geht es darum, dass Eagleton endlich auch wieder richtig Werte verteidigen will (vorzugsweise gegen Islamisten und andere Fundis, wogegen gar nichts einzuwenden ist). Der Schlüsselsatz: „Das Problem ist, dass der ausgreifende Skeptizismus manchen postmodernen Denkens kaum von der Aversion zu unterscheiden ist, dem Fundamentalismus entgegenzutreten.“
Nun ist mir dieser Gestus nicht ganz unsympathisch. Gewiss gibt es unerfreuliche Dinge, die richtiggehend real und nicht nur virtuell sind (auch wenn über sie bisweilen im Fernsehen berichtet wird), die wir versuchen sollten zu ändern, sofern das in unserer Macht steht. Unlängst geriet ich in einem Wiener Kaffeehaus an einen Tisch, an dem eine mir unbekannte deutsche Dame saß, die mich sofort streng musterte, als man ihr erzählte, ich hätte gerade – der Abu-Ghraib-Skandal war eben losgegangen – für ein hiesiges Magazin über „Amerikas Verbrechen“ geschrieben. Als sie hörte, ich hätte versucht, Fakten zu sammeln, war sie mit ihrer Geduld nahezu am Ende. Und als ich dann auf ihre Vorhaltung, der Krieg im Irak sei doch ein Medienphänomen, auch noch ein patziges „für die Toten nicht“ zurückgab, sprach sie mit mir kein Wort mehr. Was übrigens das Beste war, was sie tun konnte.
Mag solcher Aberwitz und Obskurantismus in der Theory-Community an manchen Ecken auch wild wuchern, kann mich die These vom „Ende der Theorie“ trotzdem nicht recht überzeugen. Erstens natürlich, weil sich diese Verkündung in die Reihe ähnlicher Befunde über alle möglichen Dinge (den Autor, die Geschichte, das Drama) einfügt und wir längst wissen, dass solchen Diagnosen, wenn ein bisschen Zeit vergeht, das Revival des eben Totgesagten folgt. Im speziellen Fall der „Theory“ kommt aber hinzu, dass deren Verabschiedung die Wiederherstellung eines Zustandes der Unschuld voraussetzen würde.
Denn am Ursprung des seltsamen Dings namens Theorie steht ja eine Erkenntnis, ein Wissen: dass Konzepte, Ideen eine linguistische oder materielle Grundlage haben; dass sie Konstellationen sind, in Relationen existieren, auf stummen Voraussetzungen gründen und nicht einfach wahr sind. Diese Herausforderung an die hergebrachte Philosophie hat möglich gemacht, was man etwas plump die interdisziplinäre Fruchtbarkeit von Kulturwissenschaften nennen könnte. Und als Herausforderung an die klassische Linke hat sie ins Blickfeld gerückt, was die alte Linke nicht wahrnahm, oder wenn, dann höchstens simplifiziert als Überbauphänomen: Kunst, das Unbewusste, Sex, Gender, Werbung, Branding, Sprache, Begehren. Und es scheint mir, als komme in der Annonce des „Endes der Theorie“ selbst eine Begierde zum Ausdruck – die Sehnsucht nach klaren Aussagen, praktischen Antworten, nach einer neuen Ethik, der Wunsch nach der Wiederzusammensetzung des dezentrierten Subjektes. Man will endlich wieder simpel denken dürfen. Dafür ist die Diagnose vom Ende der Theorie ein Symptom – und als solches ist sie ironischerweise gerade ein Fall für die Theorie.
Eine Rückkehr in den unbefleckten Zustand vor der Theorie wird es nicht geben. Jeder solche Versuch führt zu wenig mehr als zu einer Hebung des Pathospegels, zu leeren Beschwörungen – von Tugendhaftigkeit etwa oder von einer Echtheit, die es ohnehin nie gibt. Das ist, im besten Fall, gut gemeint.
ROBERT MISIK
Isolde Charim und Robert Misik schreiben abwechselnd eine Theoriekolumne – jeden ersten Dienstag im Monat