theorie und technik : Die Kulturgesellschaft und der neue Geist des Kapitalismus
Die Gesellschaft soll von den Künsten lernen – sagt Adrienne Goehler. Das Problem ist: Der Kapitalismus hat das längst getan
Das Buch der einstigen Berliner Kultursenatorin und Hauptstadtkultur-Kuratorin Adrienne Goehler über die „Kulturgesellschaft“ („Verflüssigungen“, Campus Verlag), taz-Lesern ob eines ausführlichen Vorabdruckes an dieser Stelle vertraut, ist in verschiedener Hinsicht bemerkenswert. Ich will darum nur auf ein regelrecht frappierend-symptomatisches Moment hinweisen. Goehlers Kernbotschaft lautet ja, erfolgreiche Gesellschaften – und das heißt heute: ökonomisch erfolgreiche Gesellschaften – müssen den Künsten einen höheren Stellenwert einräumen. Aus verschiedenen Gründen: Die Künstler sind die Avantgarde. Sie arbeiten immer schon auf eigene Rechnung, waren immer schon Unternehmer ihrer selbst. Von ihnen kann man auch lernen, die Prekarität auszuhalten. Die kreative Klasse im weitesten Sinn hat längst auch wirtschaftlich ein bedeutendes Gewicht. Für ökonomische Erfolge sind ohnehin immer mehr die weichen Erfolgsfaktoren wie Lifestyle und das Symbolische verantwortlich, und in diesen Fächern sind die Kulturkreativen ja die Spezialisten. Kein unternehmerischer Erfolg ohne Unternehmenskultur. Keine Marke ohne Markenpersönlichkeit. Der Kapitalismus ist ein Kulturkapitalismus.
Gewiss, was Goehler schreibt, ist richtig, und die Motive ihres Plädoyers sind ehrenwert: Sie will mehr Ressourcen für die Künste. Aber erstaunlich ist allemal, wie da ein alter Topos der Avantgarde zugleich eingelöst wie auch auf den Kopf gestellt wird: die Idee von der Einheit von Kunst und Leben. Im Postfordismus wird daraus die Einheit von Kunst und Wirtschaftsleben. Man kann dies einen Zirkelschluss nennen, der die alte avantgardistische Position geradezu pervertiert. Dass die Kunst ins Leben eindringt, die Künstlerexistenz verallgemeinert werde, die Kunst nicht nur in ihren abgezirkelten Parzellen eingesperrt bleibe, sondern in die Gesellschaft interveniere, wurde ja immer auch als Angriff auf das Diktat des Ökonomischen, auf die fade Rationalität der verwalteten Welt verstanden. Die Kunst und die Künstlerexistenz galten als Chiffre für das Andere jenseits dieser Rationalität. Für Futurismus, Dadaismus, Situationismus war die Ökonomie geradezu das Reich der Sicherheiten und der falschen Existenz, die Kunst versprach dagegen Intensität, Gefährlichkeit, Risiko, kurzum: Leben. Verallgemeinerung der Künstlerexistenz war von jeher ein Programm gegen die Entfremdung des Wirtschaftslebens.
Heute ist das Gegenteil der Fall: Die Verallgemeinerung der Künstlerexistenz ist eine Forderung, die aus der ökonomischen Sphäre selbst als Imperativ an alle und jeden herangetragen wird. Der Kapitalismus hat, wie das die französischen Sozialforscher Luc Boltanski und Ève Chiapello in ihrer Studie „Der neue Geist des Kapitalismus“ (ein grandioses Buch, das man gar nicht oft genug anpreisen kann) nennen, die „Künstlerkritik“ aufgenommen und adoptiert. Dem modernen Kapitalismus kann man den Vorwurf, er produziere Konformität und presse die Subjekte hinein in den ewig gleichen Trott, bei Gott nicht mehr machen: Er fordert heute selbst vom Arbeitnehmer, ein Künstler zu sein – jederzeit änderungsbereit, kreativ, immer dabei, seine Individualität voll in den kapitalistischen Verwertungsprozess zu investieren.
Wenn der Produktionsprozess „künstlerischer“ wird, dann kann es natürlich keineswegs ein Zufall sein, dass auch die Produkte „künstlerischer“ sind, jede Ware mindestens so sehr „Kulturware“ ist wie Gebrauchsgegenstand und dass die Kunst nicht mehr als das Andere der Ökonomie gesehen wird, das man sich auch noch hält – und sei es nur als Signum von Reichtum, Bedeutung und Kultiviertheit –, sondern als Schlüsselressource für die Ökonomie.
Vom utopischen Surplus der Kunst bleibt dann freilich nicht mehr viel. Statt dieses Mehrwerts liefert die Kunst das, was den Waren zu mehr Wert verhilft. Man kann das beklagen und mit Begriffen wie „Kannibalisierung“ oder „innerer Landnahme“ verdammen. Man kann das auch einfach kühl analysieren. Ob es aber tatsächlich ein Bedeutungsgewinn für die Kultur ist, wie das von den Propagandisten der Creative Industries dargestellt wird, ist freilich ziemlich fraglich. Gewiss, Vorteile sind unübersehbar, besonders für die Kontostände mancher Kreativer und gewiefter Diskursjockeys. Aber das, was der Ökonomie an kulturellen Zuwächsen beschert ist, schlägt sich gesellschaftlich als Defizit nieder. Simpel gesagt: Wenn sich die Wirtschaft die Kunst krallt, dann fehlt der Gesellschaft etwas.
ROBERT MISIK