tarifverhandlungen : „Jahrhundertreform“
Der öffentliche Dienst verhandelt erstmals über eine leistungsbezogene Entlohnung. Das ist gut so. Aber es wirkt übertrieben, den angestrebten Tarifvertrag gleich als „Jahrhundertreform“ zu titulieren. Denn so viel ist sicher: Weitere „Jahrhundertreformen“ werden folgen.
KOMMENTARVON ULRIKE HERRMANN
Das hat nicht so sehr mit der inneren Struktur des öffentlichen Dienstes zu tun, sondern mit dem rasanten Wandel in der Gesellschaft. Wenn real fast sieben Millionen Menschen arbeitslos sind, wenn in privaten Unternehmen nur noch der Kostendruck zählt, wenn viele Gekündigte sich verschlechtern müssen, um einen neuen Job zu finden – dann wird es immer erstaunlicher wirken, dass für Staatsbedienstete andere Regeln gelten sollen. Die faktische Unkündbarkeit der Beamten und Angestellten im öffentlichen Dienst wird enden.
Ein Anachronismus – der öffentliche Dienst erinnert an eine Bundesrepublik, die vergangen ist. Als der Bundesangestelltentarif vor mehr als 40 Jahren erfunden wurde, war er durchaus zeitgemäß. Bei faktischer Vollbeschäftigung galt auch für die Mitarbeiter in der Privatwirtschaft, dass sie sich um ihre Stellen nicht sorgen mussten.
Jetzt aber befindet sich die Gesellschaft mitten in einem Verteilungskampf, der sich noch verschärfen wird. Die Staatskassen sind leer, die regulären Vollzeitstellen schwinden, die Vermögensverteilung wird messbar ungerechter, immer mehr fühlen sich vom Abstieg bedroht. Diese Mischung aus Fakten, Trends und Stimmungen verändert die Diskurse; Privilegien, die kürzlich noch als selbstverständlich galten, werden nicht mehr toleriert. Die jüngsten Debatten um Nebeneinkünfte von Politikern und die Höhe von Managergehältern zeugen von dieser erhöhten gereizten Wachsamkeit.
Wie immer man es findet: Die Gesellschaft hat das neoliberale Credo verinnerlicht. Als gerechte Verteilungskriterien gelten nur noch Leistung – oder aber existenzielle Bedürftigkeit, die eine staatliche Unterstützung auf unterstem Niveau erzwingt. Diese neue Marktradikalität haben die Beschäftigten im öffentlichen Dienst durchaus erspürt. Es zeugt von strategischem Geschick, dass sie sich der leistungsgerechten Bezahlung öffnen. Aber noch unterschätzen sie, dass die Gesellschaft ihre Angestellten nicht mehr als so schutzbedürftig betrachtet, dass sie weiter Unkündbarkeit gewährt. Sie wird eine echte Jahrhundertreform verlangen.
brennpunkt SEITE 3