strübel & passig : Condoleezza und ich
Fernbedienungen gehören sicher zu den praktischeren Erfindungen des letzten Jahrhunderts. Sie sind klein, sie sparen Zeit und Energie, und wenn man sehr betrunken ist, kann man mit ihrer Hilfe auch schon mal ein Telefonat simulieren. In kühn gelaunten Nächten versteige ich mich gelegentlich sogar zu der Behauptung, nicht aufstehen zu müssen, um den Fernsehkanal zu wechseln, das habe den Paradigmenwechsel hin zur Informationsgesellschaft erst ermöglicht. Kurz: Ich bin faul, und darum ein Fan der Fernbedienung.
Deshalb fand ich auch immer Remote-Control-Gimmicks im Web sehr hübsch: selbst die schlichtesten fernsteuerbaren Webcams, Roboter (max.scs.ryerson.ca/), und Maschinen (www-swiss.ai.mit.edu/htbin/coke) unterhielten mich oft stundenlang. Über die Strenge des englischen Begriffs remote control machte ich mir dabei nie Gedanken. Erst recht nicht über seine mögliche Trag- bzw. Reichweite.
Bis ich vorige Woche die Website des Weißen Hauses aufrief, um Bushs State of the Union Address nachzulesen. Weil die Seite des Weißen Hauses recht langsam lud, minimierte ich das Browserfenster, um während des Ladens an anderen Dingen zu arbeiten. Als ich einige Momente später auf die Taskleiste schaue, trifft mich fast der dreifache Schlag: Auf dem Explorer-Button für www.whitehouse.gov steht „Why we know Ira …“. Wie bitte? Bin ich jetzt ein Schurkenstaat? Hätte da nicht erst eine UNO-Resolution …? Und überhaupt: Wissen die denn nicht, dass man sich mit mir nicht anlegen sollte? Entrüstet klicke ich auf den Button, um zu sehen, ob die Achse des Bösen neuerdings einen Knick über Süddeutschland macht. Ah – „Why we know Iraq is lying. A Column by Dr. Condoleezza Rice“ steht da. Meine Physis gibt Entwarnung. Alles ist beim Alten: nicht gut, aber auch nicht persönlich gemeint.
Oder doch? Seit dem Betrachten jener Seite meine ich, gewisse Veränderungen an mir wahrzunehmen. Mein Kaugummikonsum etwa ist auf das Dreifache explodiert. Am Zigarettenautomaten habe ich bereits zweimal versehentlich Lucky Strike statt der gewohnten Gauloises gezogen. Mein Gebrauch der Begriffe „okay“ und „fuck“ scheint sprunghaft angestiegen. Und gestern summte ich sogar mit, als Garth Brooks im Radio lief.
Freunde, denen ich besorgt meine Selbstbeobachtungen vortrage, lachen mich aus. Hysterie sei das, meinen sie. Ich sei ein Opfer der allgegenwärtigen Antiamerikanismusdebatte, hätte zu viel Telepolis (www.telepolis.de) inhaliert, und überhaupt, Garth Brooks, mit so etwas müsse man in meinem Alter schon mal rechnen. „Fuck!“, denke ich mir. Und dann; „Okay, vermutlich haben sie recht“, denn ich will ihnen ja glauben. Und doch, es nagt die Furcht: Werde ich von Condoleezza Rice ferngesteuert? Bin ich remote controlled, willenlos und ausgeliefert? Hat womöglich die Website des Weißen Hauses amerikanisierende Kräfte jenseits von HTML?
Alles Blödsinn, sage ich mir heute Morgen, wacker meine Ratio anfeuernd. Und gehe los, um meinen Körper zu stärken, auf dass mein Geist gesunde. Freundlich wie jeden Tag begrüßt mich die Bäckersfrau. „Guten Morgen!“, sage ich, erfreut registrierend, dass alles seinen gewohnten Gang geht. „Was darf’s denn heut sein?“, fragt sie. Und ohne zu überlegen, bestelle ich: „Zwei Amerikaner, bitte.“
IRA STRÜBEL