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Archiv-Artikel

strafplanet erde: züge und zelluloid von DIETRICH ZUR NEDDEN

Augustin Le Prince war von der Bildfläche verschwunden, spurlos, unauffindbar. Manche meinten, Le Prince sei in Geldschwierigkeiten, andere, er sei pleite gewesen. Mutmaßungen dieser Art wies die Familie empört zurück und suggerierte ihrerseits, niemand anderer als Thomas Alva Edison stecke hinter der Sache. Die Ersparnisse von Le Prince, so viel steht fest, steckten in cinematografischen Experimenten. Immerhin war es ihm gelungen, bewegte Bilder zu produzieren, die ersten, wie einige Filmhistoriker überzeugt sind.

Seine Patente für eine Kamera mit Einzelobjektiv waren 1888 in Großbritannien und Frankreich genehmigt worden, die USA hatten nur die mit 16 Objektiven anerkannt. Synchron zu anderen Pionieren, die an lebenden Abbildungen der Wirklichkeit arbeiteten, war Le Prince mit der Projektion unzufrieden. Es heißt, er habe es dann mit Zelluloidstreifen versucht. In der Opéra Garnier zu Paris soll Le Prince im März 1890 lebende Bilder vorgeführt haben, wie ein vom Direktor unterzeichnetes Dokument behauptet. Auf dessen Rückseite notierte er eine Äußerung, die er Le Prince zuschreibt: „Wie glücklich wären die Menschen, wenn sie die lebendigen Eigentümlichkeiten eines Menschen wiedersehen könnten. In Zukunft wird die Photographie, die starr in ihrem Rahmen bleibt, ersetzt werden durch das animierte Porträt, das lebendig wird. Die Ausdrucksformen des Gesichts werden aufbewahrt, wie die Stimme aufbewahrt wird durch den Phonographen. Man braucht nur den letzeren mit meinem Apparat zu kombinieren, um die Illusion zu vervollständigen.“

Sechs Monate später besuchte Le Prince, verbesserte Apparaturen im Gepäck, seinen Bruder in Dijon, um von ihm die vorzeitige Auszahlung einer Erbschaft zu erbitten. Ohne Erfolg. Die letzte Einstellung zeigt Le Prince, wie er in den Zug steigt, um über Paris nach New York zu reisen.

Er verschwand auf Nimmerwiedersehen, als habe er sich in nichts aufgelöst. Detektive aus England und Frankreich untersuchten die Angelegenheit, aber weder seine Leiche noch sein Gepäck wurden ausfindig gemacht. Die Fremdenlegion? Mord?

Zu diesem mysteriösen Verschwinden gibt es seit vergangenem Freitag ein mirakulöses Gegenstück aus Neustadt am Rübenberge. Ein Mann kam unter die Räder zweier Güterzüge und überlebte nahezu unverletzt. Um 19.37 Uhr hatte ein Zugführer gemeldet, er habe einen Menschen überfahren. Noch bevor Polizei und Rettungsdienst um 20.10 Uhr die Unglücksstelle erreichten, war ein zweiter Güterzug über den im Gleisbett liegenden Mann gerollt. Wie sich herausstellte, war der Betrunkene zu Fuß unterwegs gewesen und auf den Schienen gestürzt. Dabei schlug er sich den Hinterkopf an und schlief ein, kerzengerade in Längsrichtung, so dass ihn die Züge nicht einmal berührten.

Einer der beiden Filmschnipsel, die von Le Prince überliefert sind, zeigt Bilder von der Leeds Bridge, den Straßenverkehr und vorüberfahrende Waggons. Alltagsszenerien, wie sie auch die Brüder Lumière 1895 projizierten, darunter ein Zug, der dicht an der Kamera vorbeifährt.

Erst 2003 wurde im Pariser Polizeiarchiv das Foto eines Ertrunkenen aus dem Jahr 1890 entdeckt, der Le Prince ähneln soll.