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Archiv-Artikel

stefan kuzmany über Alltag „Hier ist die Martina!“ – Die hässliche Martina?

Irgendwann holt einen die Ekel erregende Vergangenheit ein. In Berlin gerne in Gestalt von Übernachtungsgästen

„Hallo, hier ist die Martina!“

Verdammt, welche Martina? Ich kenne keine Martina. Noch mal nachdenken. War da irgendetwas? An einem Abend vielleicht, an den ich nur noch verschwommene Erinnerung habe? Nein. Ich kenne keine Martina.

– „Hallo, Martina. Wie geht’s dir?“ Vielleicht sagt sie ja etwas, was mich auf ihre Spur bringt.

– „Gut geht’s mir, sehr gut. Ich habe jetzt eine Stelle als Logopädin. Du, was ich dich fragen wollte: Der Olaf und ich, wir wollten am Wochenende nach Berlin kommen. Weißt du da eine billige Unterkunft? Also für weniger als 30 Euro pro Nacht?“

– „Quatsch. Ihr schlaft natürlich bei mir.“

Oh unselige Höflichkeit! Oh unselige Anziehungskraft der Hauptstadt im Frühling! Oh unselige Martina! Ich erinnerte mich dann nämlich doch. Martina aus der Schule. Martina aus dem Leistungskurs Wirtschaft. Wir saßen nebeneinander. Eigentlich war Martina sehr nett, sie hatte nur eine unangenehme Eigenschaft: einen Minderwertigkeitskomplex.

Martina war überzeugt davon, hässlich zu sein. Es stimmte nicht. Aber das hielt Martina nicht davon ab, mich jeden Tag mit folgenden Sätzen zu konfrontieren: „Ich bin hässlich. Ich bin so hässlich. Findest du nicht auch, dass ich hässlich bin?“

– „Nein, Martina, du bist nicht hässlich.“

– „Doch, ich bin hässlich. Ich bin so hässlich.“

Irgendwann war es genug. Wir waren jung, und ich war grausam. Martina hatte gerade wieder gesagt „Ich bin so hässlich. So schrecklich hässlich. Ich bin hässlich, oder?“ Da hielt ich es nicht mehr aus.

Ich antwortete: „Stimmt, Martina, tut mir Leid. Du bist hässlich. Und damit du es ein für alle Mal weißt, werde ich es dir schriftlich geben.“ Mit diesen Worten schnappte ich mir ihr Notizbuch, schlug eine neue Seite auf und schrieb in großen Druckbuchstaben: „MARTINA IST EKEL ERREGEND HÄSSLICH.“ Mit Datum und Unterschrift.

Danach fragte Martina nicht mehr, ob sie hässlich sei. Sie fragte auch sonst nichts. Sie sprach kein Wort mehr mit mir. Zum Glück sahen wir uns nach dem Abitur kaum noch.

*

Und dann stand sie vor meiner Wohnungstür. Mit Olaf. Den kannte ich nun wirklich nicht. Olaf war Martinas Freund. Wir schüttelten uns die Hände. Da war so etwas Seltsames in seinem Blick. Ich umarmte Martina und sagte: „Gut siehst du aus!“

Stimmte ja auch. Ich hatte eigentlich erwartet, dass die beiden nur bei mir übernachten und sich ansonsten die Stadt ansehen wollten. Aber das Paar machte keine Anstalten, sich aus meiner Wohnung zu bewegen. Sie hatten einen Kasten „Augustiner“ als Gastgeschenk mitgebracht, und der kam jetzt zum Einsatz.

Erst mal drei Flaschen ins Eisfach und dann auf den Balkon. Ich erfuhr: Martina hatte neben ihrer Stelle als Logopädin gerade ein Aufbaustudium zur Sonderschullehrerin angefangen, denn als Beamtin würde sie mehr Geld verdienen. So es denn noch eine Chance auf Verbeamtung gäbe, wenn sie mit ihrem Studium fertig war. Ich erfuhr: Martina und Olaf kannten sich seit einem Jahr. Nach drei Monaten waren sie zusammengezogen. Und in Regensburg, wo sie wohnten, seien die Mieten ja zum Glück nicht so teuer. Noch drei Bier. Es wurde verdammt heiß auf dem Balkon.

Olaf hatte eine randlose Brille und kurz geschorene Haare. Olaf sagte eigentlich gar nichts. Olaf streichelte hauptsächlich Martina über den Oberarm. Ich erfuhr immerhin so viel: Olaf arbeitet als Informatiker bei einem Unternehmen, das die Software für Kampfflugzeuge herstellt. Ich fragte: „Olaf, hast du kein Problem damit, für die Rüstungsindustrie zu arbeiten?“

– „Nein.“

– „Immerhin sterben Menschen an deiner Arbeit.“

– „Das muss jeder für sich selbst entscheiden.“

Noch drei Bier.

Martina sprach wieder von den Vorzügen der Beamtenlaufbahn. Dann kam es, wie es kommen musste. Nach einer kleinen Gesprächspause richtete Martina das Wort an ihren Olaf: „Das ist übrigens der, der damals geschrieben hat: MARTINA IST EKEL ERREGEND HÄSSLICH.“

Olaf sagte nichts. Er streichelte über Martinas Oberarm, warf mir aber dabei einen Blick zu, als wollte er demnächst eine Kampfmaschine darauf programmieren, mich zu vernichten.

Was hieß denn „übrigens der“? Wahrscheinlich hatten sie sich die ganze Fahrt lang über nichts anderes unterhalten. Ich sagte, was ich in den letzten Jahren immer wieder gesagt hatte, wenn ich Martina zufällig traf: „Es tut mir Leid, Martina. Ich hätte das nicht schreiben sollen, Martina. Es hat damals nicht gestimmt, und es stimmt heute noch viel weniger.“

Noch drei Bier.

Wir tranken sie schweigend. Nur das leise Streicheln von Olafs Hand auf Martinas Oberarm war zu hören.

*

Als ich am nächsten Tag erwachte, waren Martina und Olaf längst unterwegs: Reichstag, Brandenburger Tor, Potsdam. Erst spät am Abend kamen sie zurück. Ich schlief schon. Am nächsten Morgen wollten sie abreisen.

Noch etwas schlaftrunken verabschiedete ich mich von Martina, umarmte sie und wünschte eine gute Reise. Dann, sie war schon auf dem Weg zum Auto, kam Olaf noch mal herauf. Ich fragte mich, ob er etwas vergessen habe. Aber als ich ihm die Tür öffnete, sagte er nur einen Satz: „Du bist übrigens ganz schön fett.“

Was nicht von der Hand zu weisen ist.

Fragen zu Schulkameradinnen und Oberarmstreicheln? kolumne@taz.de