robin alexander über Schicksal : Schwanger im Nebel
Krank sein war wunderschön – bis das Internet die heimische Idylle zerstörte
Keine Angst! Das Zeitungspapier, das Sie gerade in den Händen halten, ist aseptisch. Und die Druckerschwärze ist garantiert keimfrei. Dieser Text kann Sie nicht anstecken, obwohl sein Verfasser beim Schreiben ein Bild des Jammers bietet: Verrotzt und im Bademantel, von Fieber und Frieren gleichzeitig geschüttelt, allein zu Hause, und die Papiertaschentücher gehen langsam aus.
Früher hätte in solch einem erbarmenswerten Zustand niemand gearbeitet. Im Paläolithikum fieberte der Geschichtenerzähler ganz allein hinten links im Neandertal auf der Mammuthaut vor sich hin. Bei Krankheit fand mündliche Überlieferung nicht statt. Und die Steinzeithorde musste sich die Zeit mit Beischlaf und Totschlag vertreiben, bis der Erzähler seine Grippe ins Säbelzahntigerfell geschwitzt hatte.
Im Römischen Reich galt es als geradezu fahrlässig, einen schniefenden reitenden Boten einzusetzen. Schnell hätte ja das gesamte Postensystem an den Straßen des Imperiums daniederliegen können, die halbe ewige Stadt in der Therme, die andere Hälfte mit einer germanischen Grippe infiziert und die Barbaren stünden vor dem Kapitol, bevor Cäsar einmal „cave influentiae“ sagen könnte. Nur eine Landserlegende ist wohl, Hitler habe die 8. Armee bei Stalingrad nicht herausgehauen, weil der Melder von General Paulus sich im kalten Kessel einen Schnupfen geholt hatte.
Aber auch im 20. Jahrhundert galt es als äußerst unpassend, rote Nase und Erreger ins Büro zu schleppen, gleich der eigenen auch noch die Arbeitskraft der Kollegen zu gefährden oder gar auf Termin zu gehen und mit dem Bürgermeister vielleicht sogar ein Verfassungsorgan anzustecken. Wer krank war, arbeitete nicht, so war das damals, und es war vernünftig.
Heute ist es anders. Die Grippe hat ihren Schrecken verloren. Und schuld daran ist das Internet. Schnupfen, Hals- und Gliederschmerzen haben ihre produktionshemmende Funktion völlig verloren. Heute reicht auch die belegteste Stimme und ein an ein nahes Ende gemahnendes Husten am Telefon nicht mehr als Entschuldigung fürs Freimachen, denn man kann den Text ja von zu Hause schicken. Nicht nur der Leser ist vor Tröpfcheninfektion durch diesen Text völlig sicher, auch der bearbeitende Kollege. Er empfängt diesen Text nicht aus meiner verschwitzten Hand und ich sitze nicht atemzugnah neben ihm, wenn er die Rechtschreibfehler korrigiert, die meinen glasig-tränenden Augen beim Korrekturlesen entgangen sind.
Dabei ist das Arbeiten Kranker nicht für diese doppelt unangenehm. Ein kleines Grippchen hatte bisher den sehr produktiven Nebeneffekt, schwer arbeitende Profis für eine kurze Zeit aus ihrer deformation professionelle zu reißen und mit der Wirklichkeit zu konfrontieren. Es ist nützlich, wenn sich mancher, der über diese Gesellschaft schreibt, wenigstens einmal im Jahr ein bisschen länger mit seiner Putzfrau unterhält. Und jedem Medienmenschen sei dringend ein Nachmittag im Bett empfohlen, den er mit dem Ansehen von Gerichts- und Jugendberaterinnenshows im Privatfernsehen verbringt.
Auch eine harmlose Krankheit kann prägende Erfahrung sein. Als Vierzehnjähriger litt ich vier Wochen unter einer Gürtelrose, eine ebenso ungefährlichen wie schmerzfreie Angelegenheit, bei der ein jugendlicher Patient aber nicht in die Schule darf und außerdem überhaupt keinen Besuch empfangen soll. Eine Gürtelrose wird nämlich durch Rötelnerreger ausgelöst, die gefährlich für ungeimpfte Schwangere sind. Extraferien also, herrlich. Vier Wochen, die ich niemals vergessen werde. Die viele Zeit verbrachte ich nämlich fast komplett mit einem Schachcomputer und dem Buch „Die Nebel von Avalon“ von Marion Zimmer Bradley. In dieser Nacherzählung der Artus-Sage ist die Heldin auf mehr Buchseiten schwanger, als eine Schwangerschaft in der Realität Tage dauert. Schach, Avalon, Schach, Avalon. Vier Wochen lang. Noch heute träume ich manchmal von einer schwangeren Schachkönigin, die ich auf keinen Fall mit Röteln anstecken darf.
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