peters‘ paradise : Ideen knapp, Kulissen garantiert
Nach mittlerweile fünf schönen Festivaltagen kann man jetzt bereits sagen: Die 55. Internationalen Filmfestspiele Berlin zählen mit zu den besten ihrer gesamten Geschichte. Jeden Tag bietet der Wettbewerb eine neue, wunderbare cineastische Überraschung, auch wenn sich manch einer hinterher fragt: Wieso? Wieso läuft ausgerechnet dieser Film im Hauptprogramm? Gab es denn nichts Flotteres? Schließlich werden doch Jahr für Jahr hunderte, tausende, ach was, Abermillionen Filme produziert. Da kann es doch nicht so schwer sein, rund zwanzig, dreißig Filme zusammenzustellen, die hinsichtlich Thema, Spannung und Stilempfinden zumindest die Grundvoraussetzungen erfüllen, die man als argloser Zuschauer an einen Kinofilm stellt.
Doch wer solche Gedanken äußert, hat natürlich nichts vom eigentlichen Wesen der Berlinale verstanden. Der ist sozusagen ein regelrechter Filmfestivaltrottel, der nicht begreift, dass nicht das Perfekte oder Stimmige gezeigt werden soll, sondern vielmehr das mutmaßlich Interessante und Experimentelle. Das kühn Geträumte, dessen besonderer Reiz auch in der Möglichkeit seines Scheiterns liegen kann. Ein fulminantes Scheitern, aus dem sozusagen eine Lehre zu ziehen ist, wie auch immer die dann aussehen mag. Tatsächlich hat sich in dieser Hinsicht das Genre des Festivalfilms entwickelt, das sein Dasein hauptsächlich in Cannes, Venedig, Berlin und bei vergleichbaren Veranstaltungen fristet.
Ein ordentlicher Festivalfilm braucht denn auch kein gelungenes Drehbuch, sondern vor allem ein Idee. Die Idee muss dabei nicht voll ausgearbeitet sein, denn je rudimentärer sie ist, desto größer scheint ihr filmkünstlerischer Wert. Um Produktionsgelder zu erhalten, reichen Festivalfilmautoren und Festivalfilmregisseure denn auch nur kurze Treatments ein, auf dem die Idee in möglichst knappen Sätzen skizziert wird.
So könnte zum Beispiel das Treatment für den Eröffnungsfilm ausgesehen haben: „Plane was mit Pygmäen. Film soll zeigen, dass Pygmäen auch Menschen sind. Das ist politisch und bietet zugleich eine gute Möglichkeit für Landschaftsaufnahmen. Pygmäen kommen ja aus Afrika. Als Eröffnungsfilm für alle großen Festivals geeignet.“ Oder für „Sophie Scholl – Die letzten Tage“: „Will einen Film über Sophie Scholl drehen, über die letzten Tage. Könnte man wie ein Kammerspiel inszenieren, nur Verhöre und so. Die Spannung kommt da wie von selbst. Super Idee, oder? Aber nicht dem Karmakar verraten!“
André Téchiné schrieb für „Les temps qui changent“ wahrscheinlich: „Konnte die Deneuve und den Depardieu als Hauptdarsteller gewinnen. Hab noch keine Ahnung wegen der Geschichte. Irgendwas mit Liebe. Oder so. Wir lassen die einfach reden und gucken, was passiert. Exotische Drehorte könnten die nicht vorhandene Handlung möglicherweise auflockern.“ Dabei hätte eigentlich schon sein Name gereicht und der Zusatz: „Wollte mal wieder einen Film drehen. Liebe Grüße André!“
Wenn man dann noch drunterschreibt, für welches Festival sich welcher Film besonders gut eignet, hat man die Gelder schon so gut wie sicher. Auch um die Filmauswahlgremien braucht man sich keine Sorgen zu machen, im Grunde reichen als Bewerbung nur kleine Notizen: „Habe da eine Verfilmung der Bizet-Oper „Carmen“. Spielt aber in Südafrika. Mit vielen, wirklich richtig dicken Frauen!“
Tatsächlich ist „U-Carmen eKhayelitsha“, der flotte Musikfilm über die dralle Carmen aus den Townships, ein schöner Grund, die geschilderte Praxis unbedingt beizubehalten. Denn nach gängigen Maßstäben hätte solch ein Film natürlich niemals eine Chance. Wie schön, dass es Filmfestivals gibt.
HARALD PETERS