off-kino : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
In den Vierzigerjahren entwickelten der Filmproduzent Val Lewton, der beim Studio RKO mit der Herstellung einer Reihe von B-Pictures betraut war, und seine Mitarbeiter ein ungewöhnliches Konzept für ihre Horrorfilme, das nicht auf den Schrecken von Monstren vertraute, sondern auf die Fantasie des Zuschauers. So gab es in Lewtons Produktionen den „Horror“ auch nie direkt zu sehen – stattdessen schufen geschickt eingesetzte Licht- und Toneffekte eine Atmosphäre des Unheimlichen. Der talentierteste von Lewtons Regisseuren war Jacques Tourneur, der in den Jahren 1942/43 drei Filme für ihn drehte: „I Walked with a Zombie“ (Familienhorror und Voodoozauber auf einem karibischen Eiland), „The Leopard Man“ (die Verfilmung des bösen schwarzen Romans „Black Alibi“ von Cornell Woolrich) und „Cat People“, der von der aus Serbien stammenden Modezeichnerin Irena (Simone Simon) erzählt, die sich vor einer Legende ihrer Heimat fürchtet. Jene besagt, dass sich die Frauen ihres Dorfes beim Austausch von Zärtlichkeiten oder bei großer Eifersucht in rasende Panter verwandeln können. Und so sieht sich schon bald eine Arbeitskollegin ihres Mannes nicht ganz zu Unrecht von einem seltsamen Schatten bedroht. Zwei der Verfolgungssequenzen sind wahre Klassiker: der nächtliche Heimweg von Alice (Jane Randolph), die sich vor dem plötzlich abbrechenden Geräusch hallender Schritte, dem heulenden Wind und den raschelnden Büschen ängstigt, sowie eine Szene in einem nur schummrig und ziemlich irreal beleuchteten Schwimmbecken, in das sich Alice vor allerlei mysteriösen Geräuschen flüchtet. Die Wellen der Wasseroberfläche reflektieren dabei das Licht auf die Wände der Schwimmhalle, sodass ein Meer tanzender Schatten die junge Frau langsam in die Panik treibt. Schließlich schaltet Irena ganz unschuldig die Deckenbeleuchtung an …
Auch in Jean-Luc Godards „Alphaville“ gibt es eine Szene in einem irreal beleuchteten Schwimmbad, das hier als Schauplatz einer Massenexekution (mit Wasserballett) dient. Denn in der Stadt der Zukunft herrscht eine von dem Supercomputer Alpha 60 errichtete Diktatur der Logik, in der Liebe und Poesie als Verbrechen gelten. Der Science-Fiction-Effekt von „Alphaville“ entsteht ausschließlich durch die Verfremdung der Realität: Godard und sein Kameramann Raoul Coutard filmten im winterlichen Paris des Jahres 1965, dessen damals neu errichtetes Viertel La Defense mit seiner Hochhausarchitektur hier als Machtzentrale der Diktatur dient.
Keinen Anspruch auf Filmrealität verfolgten auch Louis Malle und sein Co-Autor Jean-Paul Rappeneau, als sie 1960 versuchten, einen Roman von Raymond Queneau in eine adäquate Filmsprache zu übersetzen: „Zazie in der Metro“ ist ein formales Experiment mit irren Verfolgungsjagden in falscher Geschwindigkeit, wahren Orgien der Destruktion, filmhistorischen Zitaten und Hommagen an die Freunde und Kollegen der Nouvelle Vague, deren Filmsprache Malle hier benutzt – und gleichzeitig parodiert. Lars Penning