off-kino : Filme aus dem Archiv – frisch gesichtet
Kaum drei Minuten benötigt Victor Sjöström, um alle wichtigen Konflikte in seinem Drama „The Wind“ zu etablieren. Ein Zug fährt durch die Prärie des amerikanischen Westens. An Bord befindet sich Letty Mason (Lillian Gish), ein zartes Ostküstengeschöpf, das im harschen Westen völlig fehl am Platz erscheint. Im Zug sitzt auch der Lüstling Wirt Roddy, der sich sofort mit Verve an Letty heranschmeißt. Und draußen weht ein unbarmherziger Wind, der plötzlich einen Schwall Sand durch das Zugfenster bläst. Im Verlauf der Geschichte wird Letty sich den Aufdringlichkeiten Roddys ebenso wenig zu erwehren wissen wie des penetranten Windes. Sjöström beweist in seinem Stummfilmklassiker enormes Gespür für die staubige Prärielandschaft, die Unbilden des Wetters sowie dessen Auswirkungen auf die menschliche Psyche. Als gegen Ende des Films ein großer Sturm durch alle Ritzen von Lettys kleiner Hütte dringt, dabei Fenster zerbricht und eine Lampe umwirft, die ein Feuer entfacht, übernimmt eine subjektive Kamera Lettys Blick: Im flackernden Licht scheint alles um sie herum zu schwanken – ihr seelischer Zusammenbruch naht.
Meist sind Terry Gilliams Filme, die Mitte Januar im Babylon Mitte laufen, Variationen des immer gleichen Themas. Schon in den frühen Monty-Python-Trickfilmen zeigten sich die Inspirationsquellen und Sujets, die auch seine späteren Arbeiten dominieren: der Konflikt zwischen Autorität und Kreativität, ein ausgesprochen schwarzer Humor, die Märchen- und Fantasy-Stoffe. Gilliams Helden sind Kinder, Träumer und Verrückte, deren Fantasien und Visionen über die Realitäten des Alltags triumphieren. In „Time Bandits“ (1981) entflieht ein kleiner Junge seinen langweiligen Eltern, indem er mit einigen Zwergen eine Zeitreise durch die Jahrhunderte macht. „Die Abenteuer des Baron Münchhausen“ (1988) werden wahr, weil ein junges Mädchen als Einzige an den Lügenbaron mit seiner blühenden Fantasie glaubt. Und wenn Robin Williams sich in „The Fisher King“ (1991) auf die Suche nach dem heiligen Gral macht, lassen die Visionen des Verrückten inmitten der Wolkenkratzer Manhattans sogar ein Schloss mit Freitreppe entstehen, der Central Park wird zum Märchenwald, und eine Bahnhofshalle verwandelt sich in einen Ballsaal.
Eigentlich geht mal wieder alles schief: Die Oberkellnerin Ilona (Kati Outinen) und ihr Mann Lauri, ein Straßenbahnfahrer, werden arbeitslos. Ilona fällt auf einen dubiosen Arbeitsvermittler herein, Lauri verliert den Berufsführerschein, weil er auf einem Ohr beinahe taub ist. Die auf Raten gekauften Möbel werden abgeholt. So weit erscheint auch „Wolken ziehen vorüber“ (1995) als ein typischer Aki-Kaurismäki-Film – zumal der finnische Regisseur diese traurige Routine eines scheinbar stumpfsinnigen Lebens in kurzen Szenen ohne viele Worte erzählt. Doch die Geschichte endet überraschend positiv: Ilona und Lauri eröffnen das Restaurant „Arbeit“ und erzielen damit einen Bombenerfolg. Wie singt der Barpianist doch gleich am Anfang so schön: „Wrap the World in Happy Paper“. Lars Penning