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Archiv-Artikel

nicht verpassen Blick zurück nach vorn

Vergangenheitsbewältigung im deutschen Film geht normalerweise so: Mit dem Gestus historischer Präzision wird ein Zeitabschnitt rekonstruiert, ohne ihn in einen dringlichen Bezug zur Gegenwart zu stellen. Die jüngste Welle an NS- und Holocaust-Dramen, von „Der Untergang“ bis „Sophie Scholl“, hat gerade erst wieder gezeigt, dass man Geschichte lieber als abgeschlossenen Vorgang betrachtet denn als Prozess, der bis ins Hier und Jetzt reichen könnte.

Ist es narrative Einfalt oder einfach nur Bequemlichkeit? Warum wird fast niemals aus der Gegenwart heraus erzählt? Dass dies auch im Film funktionieren kann, beweist „Das Apfelbaumhaus“ des Briten Andrew G. Hood, der an der Deutschen Film- und Fernsehakademie studiert hat.

Die Erzählkonstruktion ist denkbar einfach – und legt doch eine komplexe psychohistorische Gemengelage offen: Ein deutscher Masseur (Andreas Patton) und eine jüdisch-amerikanische Architektin (Tamara Stern) treffen im Hinterhof eines verwitterten Leipziger Mietshauses aufeinander. Er wohnt hier schon seit Ewigkeiten; sie will das Gebäude abreißen lassen, weil das Gelände für ein gigantisches Bauvorhaben benötigt wird: Unter anderem soll hier eine Synagoge für die jüdische Gemeinde entstehen.

Beim Ringen um die Immobilie wird nicht nur die Historizität des Ortes offenbar – den beiden jungen Menschen eröffnet sich auch überraschend die Geschichte ihrer Eltern. So entwickelt sich aus der Liebesgeschichte ein Familienkrimi. Und aus dem Familienkrimi das Holocaustdrama. Ein guter Abschlussfilm für die „Gefühlsecht“-Reihe des kleinen Fernsehspiels, dieses unverzichtbaren ZDF-Projekts.

Die unangestrengte Präzision und der gelegentlich trockene Witz von Hoods Film hätten es durchaus angemessen erscheinen lassen, ihn ins Kino zu bringen. Das ist leider nicht geschehen. Vielleicht wäre er sonst bei der Verleihung des deutschen Filmpreises neben dem diesjährigen Abräumer „Alles auf Zucker“, Dani Levys quasi-jiddischer Familienkomödie aus dem Berlin der Gegenwart, präsentiert worden. Mit der hat „Das Apfelbaumhaus“ jedenfalls mehr gemein als mit der unverbindlichen bis zweifelhaften Geschichtspädagogik, die ansonsten im deutschen Kino zu sehen ist. CHRISTIAN BUSS

Das Apfelbaumhaus 23.45 Uhr, ZDF