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Archiv-Artikel

nebensachen aus nairobi Kenianische Widersprüche: Privates ist privat, aber nicht im Autoradio

Kürzlich saßen mein kenianischer Freund Stan und ich in einer Bar beim Bier, und er erklärte mir, warum Kenianer an der Theke selbst nach der fünften Flasche Tusker zwar über Arbeit, Fernsehshows oder Politik sprechen, aber niemals über Privates. „Privates ist privat, das bespricht man nicht öffentlich, auch nicht mit guten Freunden.“ Was im Haus oder, im prüden Kenia, gar im Schlafzimmer geschehe, sei für die Außenwelt schlicht tabu.

Doch alle Prüderie verschwindet augenscheinlich, wenn der Zuhörer unsichtbar ist. Immer häufiger tönen aus meinem Autoradio (das aus mir unerfindlichen Gründen in regelmäßigem Rhythmus selbsttätig den Sender wechselt) unvermittelt intimste Geständnisse, die Hörerinnen und Hörer dem gierig nachfragenden Moderator per Handy anvertrauen. „Wir rufen Sie zurück“ ist die Zauberformel, die dem oder der Anrufenden alle Zeit der Welt gibt, sich zu entblößen. Wie bei Mary, 32, wohnhaft in Eastleigh, das wegen der großen Flüchtlings-Community in Nairobi „Klein-Somalia“ genannt wird. Mary hat das dringende Bedürfnis der ganzen Stadt mitzuteilen, dass ihr derzeitiger Lover Hassan aus Kismayo im Bett die Qualität eines russischen Schnellfeuergewehrs hat, sie ihm das aber niemals ins Gesicht sagen kann, weil er so stolz ist. Viel taktvoller natürlich, es ihm über UKW mitzuteilen, dachte ich – und an die Recherchen eines Kollegen, der kürzlich herausfand, dass ein Auftragsmord in Nairobi viel billiger zu haben ist, als wir immer gedacht hatten.

„Diese Radio-Geständnisse verletzen doch alle Traditionen“, wettert auch mein Lieblingstaxifahrer Patrick, der den örtlichen Krawallsender gern besonders laut hört, während er mit seinen beiden Handys gleichzeitig telefoniert und sein Auto durch Nairobis Verkehrschaos wuchtet. Und ein wenig lauter stellt, als Janet sich per Telefon zu Wort meldet, in der täglichen Rubrik „Who do you dump“, zu deutsch: Welcher Geliebte wandert heute in den Orkus. Wer sich schon immer gefragt hat, ob gewisse Körperzonen afrikanischer Männer größer sind als anderswo auf der Welt, erfährt jetzt von Janet, Kassiererin im Nakumatt Mombasa Road, Kasse 5, dass das bei ihrem Lover James jedenfalls nicht so ist, und noch einige Details dazu. An Kasse 5 wird Janet bis heute Abend außer schwitzigen Geldscheinen sicher noch einige zweideutige Angebote in Empfang nehmen, aber daran hat sie bei der Beichte durchs Telefon vielleicht nicht gedacht. Zumindest wundere ich mich nicht mehr, warum ich im Supermarkt oft so lange anstehe, während Kassierer sich verschwörerisch über ihr Handy beugen.

Schon warnt die Briefkastentante, die einmal die Woche in der Zeitung Nation auf altmodischem Wege Beziehungstipps gibt (und vermutlich um ihren Job fürchtet), vor den Spätfolgen der drei Minuten im Radio-Rampenlicht. „Wenn ihr wirklich mit jemandem über peinliche Privatgeschichten sprechen müsst, zahlt einen Psychiater, beichtet eurem Pastor oder im schlimmsten Fall: Redet mit euch selbst.“

Für mich steht jedenfalls fest: Beim nächsten Bier mit Stan werde ich ihn nach seinen privatesten Beziehungsproblemen fragen und nicht locker lassen, bis ich alles weiß. So bin ich vor den schlimmsten Überraschungen gefeit, falls Stan sich in einer düsteren Stunde dazu entscheiden sollte, doch einmal bei seinem Lieblingsradiosender anzurufen.

MARC ENGELHARDT