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Archiv-Artikel

marotten en gros. hier nur die größte von TOM WOLF

Zu meinem Herkommen nur so viel: Ich wurde älter und älter und schließlich alt – so alt, wie ich heute bin. Wie gern würde ich mich auf meinen Lorbeeren ausruhen und ein paar Jahre einfach so durchschlafen. Man verschläft ja sowieso etwa ein Drittel des Jahres – wenn man schlafen kann und nicht an Schlafstörungen leidet. Die wache Zeit mag man anderswie vertrödeln oder gar arbeiten, wenn man arbeiten kann und nicht an Arbeitsstörungen leidet.

Das wäre alles schön und gut. Doch jetzt werden Stimmen laut, die behaupten, ich sei bloß eine einzige Zusammenballung von Schrullen, Wunderlichkeiten, Grillen, Ticks, Mucken, Flitzen, Macken, Fimmeln und Zicken. Man rät mir den Gang zum Therapeuten an. Kein besonders normaler Mensch sei ich mehr, sondern ein egozentrischer Misanthrop, Grossist für Marotten aller Art.

Meine größte Marotte wurde nun zum Stein … nein, sagen wir besser: Stopfen des Anstoßes. Denn ich bediene mich seit über zwanzig Jahren professioneller Lärmschutzinstrumente, um mich der leidigen Lärmquelle Mitmensch zu verschließen: Ohrenstopfen.

Ohrenstopfen, heißt es nun von Seiten einer mir nahestehenden und -liegenden Persönlichkeit, seien ein Affront. „Du willst mich weghaben, nicht hören, was ich im Traum erzähle. Ich komme mir vor wie … wie … ausgestöpselt!“ Um genau zu sein, hat meine Freundin das gesagt und mir vor Wut die Stopfen aus den geröteten Ohren gerissen. In der Dunkelheit hat sie nicht so gut gesehen und erst an den Ohren im Ganzen gezogen. Ich hatte bis dahin seelenruhig geschlafen und war bass erstaunt.

Ich versuchte mich argumentativ zu verteidigen: „Wer sagt mir“, sagte ich, „dass nicht gleich, in der Stille der Nacht, dem Irren von gegenüber der Gedanke kommt: Jetzt muss ich schreien? Oder dass nicht ein anonymer Spätheimkehrer den Morgen mit einer guten Mülltrennungstat beginnt, indem er die ihn begleitende Flasche in den Weißglascontainer schmettert, um drei Uhr früh? Allein die Möglichkeit eines Geräuschs raubt mir den Schlaf.“ „Das ist doch gestört!“, hieß es da. „Du bist ja total gestört!“ Das war ich in der Tat. In den restlichen Nächten der Woche konnte ich nicht einschlafen ohne die Stöpsel.

Zugegeben, ich benutze die Stopfen auch tagsüber beim Schreiben. Das hat den Vorteil, dass ich arbeiten kann, wenngleich es den Nachteil für andere hat, dass sie mich nicht ablenken können – weder wenn sie sich als Postbote verkleiden und versuchen, an meiner Tür klingelnd, ein Paket loszuwerden noch wenn sie sich als meine Freundin ausgeben und am Telefon mit mir sprechen wollen. Völlig chancenlos sind sie schließlich, wenn sie die Gestalt des Irren von gegenüber annehmen.

Das sei doch kein Leben. Ich sei doch total gestört! Das bin ich in der Tat. Die ganze Woche konnte ich kaum arbeiten ohne Stöpsel. Mühsam gelang es, diesen Text abzufassen. Jetzt musste ich es tun. Ich rief den Apotheker an und gab meine wöchentliche Nachbestellung auf. Der Therapeut dagegen hat nicht abgehoben, obwohl ich es lange klingeln ließ. Wer weiß, vielleicht hätte er für meine Probleme ja wirklich ein offenes Ohr.